Süddeutsche Zeitung

Olympia in den USA:Vaterland vor Gesundheit

Während Olympia wird in Amerika debattiert, ob Simone Biles egoistisch oder vernünftig ist - und ob man sich über Pleiten der Fußballfrauen freuen sollte, weil sie bei der Hymne knien. Auch Donald Trump mischt sich ein.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es wird während der Olympischen Spiele unerbittlich gestritten in den USA, die Themen lauten: Ist die Turnerin Simone Biles, die sich mit Verweis auf ihre mentale Gesundheit von allen Wettbewerben zurückgezogen hat, eine "selbstsüchtige Soziopathin" und eine "Schande für dieses Land", wie der rechtskonservative Radiomoderator Charlie Kirk sagt?

Sind Amber English, Will Shaner und Vincent Hancock, allesamt Olympiasieger im Schießen, wahre Patrioten?

Und die erstaunlichste Frage, weil man sich normalerweise aufs gemeinsame Anfeuern der Landsleute ganz gut einigen kann: Sollte man Niederlagen der Fußballfrauen bejubeln, weil die Mehrzahl der Spielerinnen beim Abspielen der Nationalhymne kniet?

"Wokeism macht dich zum Verlierer", sagt Donald Trump

Ja, es geht wirklich so zu in diesem Land, und wer wissen will, warum das so ist und wohin das führen könnte, sollte das Hillsdale College kennen. Hillsdale/Michigan liegt, wie die Amerikaner sagen, "in the middle of nowhere", irgendwo im Nirgendwo. 8000 Einwohner. Nach Hillsdale kommt nur, wer wirklich dorthin will.

Hillsdale College liegt auf halber Strecke zwischen den Elite-Unis Notre Dame und University of Michigan, und es hat mit diesen beiden Instituten in etwa so viel gemein wie Kirk mit Biles. Es ist eine erzkonservative Hochschule, die ganz bewusst auf staatliche Fördermittel verzichtet, weil die den Lehrplan beeinflussen würden - das Budget von mehr als 550 Millionen Dollar pro Jahr wird komplett privat finanziert. Ohne Richtlinien beim Lehrplan gibt es zum Beispiel eine Vorlesung über die US-Verfassung, Untertitel: "Ablehnen der Grundwerte durch Progressive und Aufstieg des bürokratischen Despotismus." Oder eine in Geschichte: "World War II, der großartigste bewaffnete Konflikt in der Geschichte der Menschheit."

Und: Das Hillsdale College ist Stützpunt der amerikanischen Sportschützen. Die Uni arbeitet seit 2019 mit dem US-Verband zusammen und will 15 Millionen Dollar in die Erneuerung der Anlagen investieren; das ist sehr viel Geld, wenn man bedenkt, dass das Budget des US-Schützenverbandes bei 6,5 Millionen Dollar pro Jahr liegt. Das gemeinsame Ziel formuliert Verbandschef Matt Suggs so: "Wir wollen nicht nur Weltklasse-Athleten ausbilden, sondern auch Weltklasse-Bürger, die in Zukunft den Schießsport, aber auch den zweiten Zusatzartikel der Verfassung unterstützen werden", das Recht auf Waffenbesitz.

Den Konservativen gilt jemand wie Simone Biles als Symbol der Verweichlichung der Gesellschaft

Die amerikanische Zwietracht hat also den olympischen Sport erreicht, und da ist natürlich Donald Trump nicht weit, der als US-Präsident die Proteste von Sportlern gegen Polizeigewalt und Rassismus schmähte. Nun behauptete er auf einer Veranstaltung in Phoenix, dass die Fußballfrauen wegen des Niederkniens verloren hätten: "Wokeism" - frei in etwa: die Aufmerksamkeit gegenüber gesellschaftlicher Unterdrückung - "macht dich zum Verlierer". Er behauptete, dass sich viele Amerikaner über die 0:3-Niederlage gegen Schweden gefreut hätten.

Die Amerikaner politisieren Sport freilich seit Jahrzehnten, der Sieg des US-Eishockeyteams gegen die UdSSR bei Olympia 1980 wird noch immer als "Miracle on Ice" gefeiert. Das sind ja die Motive, die sie so gerne für sich reklamieren: als Außenseiter entgegen aller Wahrscheinlichkeiten triumphieren und sich fürs Vaterland opfern wie Turnerin Kerri Strug bei Olympia 1996 in Atlanta, die trotz schwerer Knöchelverletzung antrat und dem US-Team Gold vor Russland sicherte.

Genau darum geht es letztlich auch bei der aktuellen Debatte: Jemand wie Simone Biles, die ihre Gesundheit über den Gewinn der Goldmedaille stellt, gilt Konservativen als Symbol einer Gesellschaft, der ihre persönlichen Ziele wichtiger sind als ihr Land. Der rechtskonservative Kommentator Kirk sagt: "Wisst ihr, wer jetzt Gold hat? Russland. Russland! Ich muss also diese 1,50 Meter großen Russinnen ansehen, wie sie in ihre Medaillen beißen und die Amerikaner angrinsen. Das finde ich nicht okay, aber dahin bewegen wir uns: Wir erschaffen eine Generation, die so verweichlicht ist wie Simone Biles."

Ja, er hat das wirklich so gesagt. Laut einer aktuellen Umfrage der George Washington University glauben 55 Prozent der Konservativen, dass der "American Way of Life" womöglich mit Gewalt verteidigt werden müsse.

Das führt zurück zu Olympia, dem Hillsdale College und der Trennung von Sport und Politik. "Wir schreiben keinem unserer Athleten vor, was sie sagen oder woran sie glauben sollen", sagte Verbandschef Suggs in Tokio: "Wenn es aber zum Waffenbesitz kommt, sind wir alle in Übereinstimmung mit dem zweiten Zusatzartikel der Verfassung, der jedem Bürger das Recht sichert, eine Waffe zu besitzen."

Das Hillsdale College finanziert sich über großzügige Geldgeber, die Liste liest sich nicht zufällig wie die Liste der Unterstützer der Waffenlobby NRA. Künftig wollen sie auch Einnahmen über den Verkauf von Munition an Leute erzielen, die ganz bewusst nach Hillsdale kommen, um zu trainieren - und vielleicht an einer anderen Vorlesung zur Verfassung teilnehmen. Die Beschreibung lautet: "Um ein tieferes Verständnis zu bekommen, gibt es eine ausgewogene Mischung im Klassenzimmer mit Fokus auf den zweiten Zusatzartikel und Veranstaltungen auf der Schießanlage."

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