US-Sport:Vom Leid der Bulldogge

Scharfer Blick, großes Herz: Zehn Meisterwerke der amerikanischen Sportreportage in einem Sammelband. Geschrieben zu einer Zeit, als die Nähe zu den Protagonisten noch einfach herzustellen war.

Von Holger Gertz

Das Geheimnis eines bewegenden Porträts ist die Offenheit des Porträtierten. Er muss die Deckung runternehmen, damit der Autor an ihn rankommt, im besten Fall entstehen dann Nahaufnahmen, die dem Leser etwas Neues erzählen. Markus Feldenkirchens Spiegel-Porträt des Wahlkämpfers Martin Schulz (2017) ist ein moderner Klassiker dieses Genres, Gay Taleses Esquire-Stück über den Boxer Floyd Patterson (1964) ein klassischer Klassiker: Beide Autoren betrachten mit scharfem Blick Verlierer, die bereit sind, über die Bedeutung des Verlierens nachzudenken. Außerdem nehmen die Verlierer die Autoren praktischerweise auch mal im Auto mit.

Nähe ist selten im gehetzten journalistischen Betrieb, Medienberater ersticken die Nähe. Die Reportagen-Sammlung "Die stille Saison eines Helden" ist deshalb auch ein Erinnerungsbuch: an Zeiten, als diese Nähe zwischen Beschreiber und Beschriebenem noch selbstverständlicher herzustellen war. Zehn Storys versammelt der Band, angeblich die besten amerikanischen Sportgeschichten. Wer US-Magazine regelmäßig liest, wird möglicherweise Texte von anderen Autorinnen und Autoren für noch besser halten, was den Glanz der vorliegenden Reportagen nicht mindert; Dominik Fehrmann hat sie übersetzt.

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Ein Idol, weit über sein Karriereende hinaus: Joe DiMaggio vor einem Baseball-Spiel der New York Yankees 1951 im Hollywood Ball Park – zu einem Zeitpunkt, als er eine größere Berühmtheit war, als die Schauspieler auf der Tribüne. Im selben Jahr trat er vom aktiven Sport zurück.

(Foto: Frank Filan/AP)

Zu erleben ist Nähe in allen Aggregatzuständen. Der Reporter Mark Kram ist 1975 bei Ali und Frazier, unmittelbar nach dem "Thrilla von Manila". Er begegnet zwei Erloschenen, von denen der eine (Ali) beim von Imelda Marcos ausgerichteten Festmahl vor Schmerzen nicht die Gabel halten kann. Während der andere (Frazier) in seiner Unterkunft liegt und dauernd "Macht das Licht an!" schreit. Dabei ist das Licht längst an. Der Journalist Kram ist kein Ali-Fanboy, er sympathisiert mit dem von Ali beleidigten Frazier, der vor ihm in einem Bett liegt, dem zum Totenbett offensichtlich nicht viel fehlt. Kram hört den schweren Mann schwer atmen, und was er sieht, brennt sich ihm ein, und nicht nur ihm: "Seine Augen waren nur noch Schlitze, sein Gesicht sah aus wie von Goya gemalt."

Die Kunst des Herumhängens gerät in Vergessenheit. Heute tickt der Journalismus schneller

Zweite Geschichte, ein weiteres Stück über die Nähe zwischen Menschen, diesmal zwischen Vater und Tochter. Dem wunderbaren Autor George Plimpton gelingt es, seine Tochter zum gemeinsamen Besuch eines Harvard-Yale-Footballmatches zu überreden. "Medora geht zum Spiel der Spiele" heißt die Geschichte. Väter und ihre Kinder auf dem Weg ins Stadion - ein eigenes Untergenre des Sportfeuilletons. Plimptons Tochter Medora ist neun, ein Alter, in dem ihr Vater sich noch Hoffnungen machen kann, sie für Dinge seiner Wahl zu begeistern. Für Harvard zum Beispiel, denn er möchte, dass sie da mal studiert. Aber sie mag Yale lieber, wegen der Farben, und wegen des Ypsilons. Sie mag auch das Yale-Maskottchen, eine Bulldogge. Vater Plimpton erzählt, ein Harvard-Trainer habe mal eine Bulldogge hinter dem Auto hergeschleift, aber nur eine aus Pappmaschee natürlich. Das beruhigt Medora nicht, denn es stellt sich heraus, dass sie "Pappmaschee-Bulldogge" für eine eigene Bulldoggenart hält und mit den Tierquälern aus Harvard erst recht nichts mehr anfangen kann. Rührend, sehr heiter.

US-Sport: „Thrilla in Manila“: Nach dem Kampf gegen Joe Frazier 1975 kann Muhammad Ali (rechts) bei einem Festmahl vor Schmerzen die Gabel nicht mehr halten.

„Thrilla in Manila“: Nach dem Kampf gegen Joe Frazier 1975 kann Muhammad Ali (rechts) bei einem Festmahl vor Schmerzen die Gabel nicht mehr halten.

(Foto: Mitsunori Chigita/AP)

Letztes Beispiel einer lesenswerten Sammlung: Der erwähnte Talese begegnet 1966 dem Baseballhelden Joe DiMaggio, unter anderem in dessen Restaurant in Fisherman's Wharf. Talese ist ja ein Meister der "fine art of hanging around", wie Generationen von Jungjournalisten gelernt haben, die ihrerseits allerdings trimedial belastbar sein müssen, was das Herumhängen praktisch unmöglich macht. Der glückliche Talese dagegen konnte sich alle Zeit nehmen, den Helden DiMaggio im Ruhestand zu beschreiben, einen Mann, der sich in Form hielt. Aber ein Spieler, der kein Spieler mehr sein kann, trägt an der Erinnerung. Während die Zuschauer es genießen, wenn der alte Held noch einmal im Vorprogramm eines großen Spiels einen Ball schlägt, der dem Helden nichts bedeutet, den Zuschauern alles. Talese schreibt: "Tausende von Menschen waren wie wild aufgesprungen und hatten gejubelt - der große DiMaggio war zurückgekehrt, sie waren wieder jung, es war gestern."

Ein schönes Beispiel dafür, dass einer, der seinem Protagonisten nahekommen will, einen scharfen Blick braucht. Aber genauso ein großes Herz.

"Die stille Saison eines Helden. Die besten amerikanischen Sportgeschichten." Steidl-Verlag. 18,00 €.

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