Daniil Medwedew bei den US Open:Er spielt Tennis wie Schach

US Open

"Er erkennt Winkel auf dem Feld, die andere nicht sehen", sagt Trainer Gilles Cervara über Daniil Medwedew.

(Foto: Frank Franklin II/dpa)

Daniil Medwedew pöbelte schon gegen die New Yorker, über seine Spielweise lästert mancher Konkurrent - doch bei den US Open ist dem Russen alles zuzutrauen.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es war dann doch erstaunlich, dass Frances Tiafoe (USA) seine Niederlage bereits zu Beginn des zweiten Satzes akzeptierte; allerdings hatte er sämtliche Phasen der Trauer schon durchlebt während dieser Partie gegen Daniil Medwedew (Russland): Er wollte erst nicht wahrhaben, wie grandios sein Gegner spielte, dann trat er wütend gegen das Netz. Er verhandelte mit Medwedew ("Jetzt hör' aber mal auf!") und war tatsächlich den Tränen nahe. In diesem Moment aber sah er ein, dass auf der anderen Seite jemand war, der ihm vielleicht nicht technisch und körperlich überlegen war, wohl aber spielerisch und mental. Diese Partie hatte noch nicht einmal so richtig begonnen, doch sie war vorbei: Medwedew gönnte Tiafoe danach nur noch ein Spiel und gewann 6:4, 6:1, 6:0.

Hobby-Schachspieler Medwedew baut Ballwechsel wie Mini-Partien auf dem Brett auf, dieser Moment ging so: Er spielte fünf Mal Rückhand-Cross und brachte so seine Bauern in Stellung. Dann folgten zwei kräftige Longline-Schläge (Türme), jeweils einer mit Vorhand und Rückhand. Danach zwei Mal filigran Vorhand-Topspin (die Springer), und plötzlich hatte er seinen Gegner genau da, wo er ihn haben wollte: Die Vorhand von Tiafoe war präzise, doch war er ohne Balance in der Ecke gefangen. Medwedew setzte seine Dame ein und knallte den Ball die Linie lang ins Feld. Das hätte er gar nicht mehr tun müssen, der Gegner applaudierte bereits. Hätte Tiafoe eine Königsfigur in der Hosentasche gehabt, er hätte sie auf den Boden gestellt und als Zeichen der Aufgabe umgekippt.

Es gibt Leute wie Stefanos Tsitsipas (Griechenland), die halten Medwedews Spielweise für langweilig und dumpf, es stimmt schon: Er verfügt nicht über die Athletik von Rafael Nadal (Spanien), die Eleganz von Roger Federer (Schweiz), die Beinarbeit von Dominic Thiem (Österreich). Er ist die Antithese zu all den eindimensionalen Aufschlag-Vorhand-Prüglern, von denen es im Männertennis viel zu viele gibt. Die Stärke von Medwedew ist nicht, dem Gegner seine Spielweise aufzuzwingen, er absorbiert vielmehr dessen Stärken zur Gestaltung faszinierender Duelle, die all jene lieben, die sich für die geometrischen Aspekte dieser Sportart begeistern können. Die Partien von Medwedew sind spektakulär, weil er selbst es nicht ist. Es macht Spaß, ihnen zuzuschauen, das Finale im vergangenen Jahr (er verlor nach knapp fünf Stunden gegen Nadal) gehört zu den dramatischsten Partien der letzten Jahre.

Was Lästerer wie Tsitsipas oft vergessen: Um Spiele so gestalten zu können, braucht es doch athletische und technische Fertigkeiten. Medwedew gilt als Perfektionist, der Schläge nicht übt, bis er sie kann - sondern so lange, bis er es nicht mehr falsch machen kann. "Er erkennt Winkel auf dem Feld, die andere nicht sehen", sagt Trainer Gilles Cervara. Diesen Slice-Aufschlag von Tiafoe zum Beispiel, der Medwedew so weit in die Ecke trieb, dass er beinahe in den Katakomben des Arthur-Ashe-Stadiums war. Er reagierte mit einem grandiosen Rückhand-Cross-Passierschlag, nach dem der ans Netz gestürmte Tiafoe seinem Gegner nur halb im Scherz mitteilte, dass der sich verpissen möge.

Medwedew legte sich mit den New Yorkern an

"Die Leute kapieren manchmal nicht, was in Köpfen von Genies vorgeht", sagt Trainer Cervara, und es sei bei dieser Gelegenheit ans Turnier 2019 erinnert. Medwedew zeigte den New Yorkern den Mittelfinger und provozierte sie nach Siegen. Es waren die gleichen Floskeln, die alle anderen verwenden - nur: garniert mit sarkastischer Stimme. Hier noch einmal seine Worte, und man möge sich vorstellen, dass Federer sie sagt: "Zuallererst möchte ich mich bei euch allen bedanken, eure Energie hat mich heute zum Sieg geführt. Wenn ihr nicht gewesen wärt, Leute, dann hätte ich wohl verloren, weil ich so müde war. Ich will deshalb, dass ihr, wenn ihr heute ins Bett geht, daran denkt, dass ich nur wegen euch gewonnen habe."

Irgendwann erkannten die New Yorker: Der ist wahnsinnig, der ist eigen, der lässt sich nichts gefallen. Der ist, nun ja, wie wir. Beim unfassbaren Finale gegen Nadal feuerten sie ihn an, und sie mochten ihn noch ein bisschen mehr, als er nach der Niederlage gestand: "Ich sage manchmal schlimme Sachen, die ich nachher bereue, aber ich bin in diesem Moment ich selbst. Ich will ein besserer Mensch sein und mich entwickeln - ich will aber immer ich bleiben." Mal ehrlich: Kann jemand mehr New Yorker sein? Er war angekommen in dieser verrückten Stadt.

Und in diesem Jahr? Es sind keine Zuschauer da, die Themen der ersten Woche hatten nur selten mit Tennis zu tun; bei den Männern war sowieso klar, dass Novak Djokovic gewinnen würde. Nach dessen Disqualifikation sehen sich die Leute verwundert um: Ach, Nadal und Federer sind ja auch nicht da, es wird deshalb zum ersten Mal seit Wimbledon 2016 einen anderen Grand-Slam-Champion geben als die so genannten "großen Drei" - wobei damals Andy Murray gewann, der aus dem Trio ein paar Jahre lang ein Quartett gemacht hatte. Es wird einer siegen, der noch nie eines der großen vier Turniere im Tennis gewonnen hat, und nun fällt der Blick auf Thiem, Zverev - und Medwedew. Dessen Bilanz bei diesen US Open: vier Siege in jeweils drei Sätzen, er verlor in keinem Durchgang mehr als vier Spiele.

Gegen Tiafoe spielte er beängstigend perfekt, und noch beängstigender war, was er danach sagte: "Ich habe hier und da noch ein paar Fehler gemacht, die sollte ich abstellen." Im Viertelfinale am Mittwoch trifft er auf Landsmann Andrej Rublew, mit dem er schon lange befreundet ist. Er sagt, was ein New Yorker über ein Duell mit seinem Kumpel sagen würde: "Auf dem Platz gibt es keine Freunde." Einem Typen, der Tennis wie Schach interpretiert, die Stärken der Gegner für seine Zwecke nutzt und der kein Problem damit hat, sich mit dem New Yorkern anzulegen, dem ist so ziemlich alles zuzutrauen.

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