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US Open:Djokovic sucht den letzten Mosaikstein

Bei den US Open kann der Serbe den Grand Slam komplettieren - als erster Mann seit 1969. Für Djokovic geht es nicht nur um den Titel, sondern auch darum, die Debatte um den besten Tennisspieler der Geschichte zu entscheiden.

Von Jürgen Schmieder, New York

Man muss sich informieren vor so einem Grand-Slam-Turnier, und wer am vergangenen Wochenende ein paar Leute mit Außenseiterchancen auf den Männer-Titel bei den US Open beobachten wollte, der sah sich die beiden Halbfinal-Spiele beim Turnier in Cincinnati an: Alexander Zverev gegen Stefanos Tsitsipas und Andrej Rublew gegen Daniil Medwedew. Ja, schon richtig gelesen, und bei allem Respekt vor diesem Quartett, das an den Rängen zwei bis fünf gesetzt sein wird: Wer den Favoriten sehen wollte, der musste Novak Djokovic beim Training betrachten; es ging bei dieser Einheit in New York mindestens so intensiv und hochklassig zu wie im Tiebreak des dritten Durchgangs bei Zverev - Tsitsipas.

Die Herausforderer mögen Bube (Rublew), Dame (Tsitsipas), König (Zverev) und Ass (Medwedew) sein in diesem Tennis-Kartenspiel - Djokovic ist der Joker, der sie alle gestochen hat bei den großen Turnieren in diesem Jahr. Er kann in New York den Grand Slam schaffen, den Sieg bei den vier bedeutendsten Tennisturnieren im Kalenderjahr; denn bei den Australian Open in Melbourne, den French Open in Paris und in Wimbledon hat er bereits gewonnen. Vielleicht eine völlig irre Zahl, die verdeutlicht, wie sehr Djokovic favorisiert ist: Die Buchmacher in Las Vegas halten einen Triumph von ihm für wahrscheinlicher (Wettquote: 1,75) als den Sieg (2,05) von irgendeinem der restlichen 127 Teilnehmer im Hauptfeld.

Was muss das für ein Druck sein, der auf Djokovic lastet?

Es geht um das letzte, wichtigste Mosaiksteinchen seiner Karriere

Für ihn steht sehr viel mehr auf dem Spiel als der Sieg beim letzten Grand-Slam-Turnier des Jahres - was auch daran zu erkennen war, dass er die Vor-US-Open-Turniere den jungen Akteuren überließ (Zverev gewann in Cincinnati, Medwedew in Montréal, Jannik Sinner in Washington) und stattdessen lieber erst in Montenegro urlaubte und dann früh nach New York reiste. Dort geht es um das letzte, entscheidende Mosaiksteinchen seiner Karriere.

Djokovic, 34, will anerkannt sein als der beste männliche Tennisspieler der Geschichte. Diese Debatte wird oftmals subjektiv geführt, es geht dann auch um die Leichtigkeit von Roger Federer und den Genuss, dem Maestro bei der Arbeit zuzusehen, als dürfe man Michelangelo beiwohnen, wie er die Sixtinische Kapelle bemalt. Oder um den Willen von Rafael Nadal, seine Kraft und die Fähigkeit, dem Ball so viele Umdrehungen pro Sekunde zu verpassen, dass er den Gesetzen der Physik zu trotzen scheint. Djokovic kam aufgrund der späteren Geburt erst zu diesem Wettstreit, als sich Nadal und Federer bereits an Grenzen trieben, die sie ohne den anderen niemals erreicht hätten. Dieser Umstand hilft ihm nun auch, weil die beiden anderen feststellten, dass Gevatter Zeit langfristig noch immer unbesiegt ist und in New York fehlen; wie auch Vorjahressieger Dominic Thiem.

Grand Slam, das klingt wie ein Aufschlag in die Magengrube von Federer und Nadal

Djokovic wirkte lange wie ein Eindringling, der seine Rolle suchte. Federer, inzwischen 40, ist der Geliebte; Nadal, 35, ist der Bewunderte; und Djokovic, 34, weiß nach all den Jahren nun, was er sein will: der Respektierte. Diese Rolle definiert sich bei allen subjektiven Kriterien, die es auch für Djokovic gibt (Beweglichkeit und mentale Stärke), vor allem über Statistiken. Über Zahlen kann man nicht debattieren, und es gibt ein paar objektiv messbare Kategorien, in denen Djokovic vor den Rivalen liegt: Zeit als Weltranglistenerster, mit 336 Wochen hat er Federer überholt. Im direkten Vergleich über alle Beläge hinweg führt er jeweils gegen Federer (27:23) und Nadal (30:28), und er hat als Erster und bislang Einziger alle vier Grand-Slam- und neun Masters-1000-Turniere gewonnen.

Bei den Grand-Slam-Turnieren steht es derzeit 20:20:20. Ein Sieg in New York wäre nicht nur die Führung in einer weiteren Kategorie für Djokovic, er könnte einen historischen, mythischen Triumph schaffen, dessen Name klingt wie ein Aufschlag in die Magengrube der anderen: Grand Slam.

Das ist bei den Männern zuletzt dem Australier Rod Laver im Jahr 1969 gelungen und überhaupt nur Don Budge (1938) und Laver (1962 zum ersten Mal). Bei den Frauen waren Maureen Connolly (1953), Margaret Court (1970) und Steffi Graf (1988) erfolgreich. Vielleicht noch eine bemerkenswerte Zahl, die verdeutlicht, was Djokovic da schaffen kann: Weder Federer noch Nadal haben je auch nur die ersten beiden Grand-Slam-Turniere einer Saison gewonnen, das ist seit Laver nur Mats Wilander (1988) und Jim Courier (1993) gelungen. Djokovic dagegen hat bereits den "Non-Calendar-Year-Grand-Slam" geschafft, denn nach dem Sieg bei den French Open 2016 war er im Besitz sämtlicher Grand-Slam-Trophäen. Puristen verlangen aber, dass dies innerhalb des Kalenderjahr gelingt.

"Druck ist ein Privileg", findet der 34-Jährige aus Belgrad

Nun also die Chance auf den echten Grand Slam, und ein Erfolg in New York würde Djokovic in so vielen objektiv messbaren Kategorien derart weit nach vorne katapultieren, dass die Rivalen Federer und Nadal schon in einen Jungbrunnen plumpsen müssten, um sich in der Debatte um den besten männlichen Tennisspieler der Geschichte Argumente zu verschaffen. Deshalb, noch mal: Was für ein Druck muss da gerade auf Djokovic lasten?

"Druck ist ein Privileg, mein Freund", hatte er kürzlich in Tokio gesagt. Er, der Joker, hatte bei Olympia den Einsatz erhöht, er hatte ja die Chance auf den Golden Slam, den bislang nur Steffi Graf (1988) errungen hatte. Er wurde angesprochen auf den Rückzug der Turnerin Simone Biles (sie hatte auf ihre angeschlagene mentale Gesundheit verwiesen, wie im Frühling auch Tennisspielerin Naomi Osaka), er sagte: "Wer der Beste sein will, sollte besser lernen, mit Druck und diesen Momenten auf dem Spielfeld und abseits davon umzugehen." Ein paar Tage später implodierte er regelrecht im Halbfinale gegen einen prächtig aufgelegten Zverev, verlor anschließend im Mixed-Halbfinale und das Bronze-Einzel-Match gegen Pablo Carreno Busta. Drei Niederlagen nacheinander, und jetzt kommt die letzte völlig irre Statistik: Das war ihm zuvor erst zweimal passiert: im Frühling 2018 sowie 2007 in der Gruppenphase des ATP-Masters.

Djokovic zieht unfassbare Energie aus solchen negativen Erlebnissen. Wie sonst lässt sich erklären, dass er nach der kniffligen zweiten Jahreshälfte 2020, als er in die Kritik geriet wegen der Balkan-Turnierserie während der ersten Pandemie-Welle, wegen seiner Disqualifikation bei den US Open und zudem wegen des Versuchs, eine neue Spielergewerkschaft zu gründen, so sehr an sich tüftelte, dass bei Grand-Slam-Turnieren niemand wirklich eine Chance gegen ihn hatte. Selbst im French-Open-Finale gegen Tsitsipas war Mitte des dritten Satzes trotz 0:2-Rückstands klar, dass Djokovic das Match aufgrund dieser Kombination aus Fitness und mentaler Stärker gewinnen würde. Tsitsipas sah so aus, als wüsste er das, und wer Bube, Dame, König und Ass zuhörte in Cincinnati: Sie alle wissen, dass nur Djokovic favorisiert ist in New York.

Er hat gelernt, mit seinen inneren Dämonen zu leben

Ja, er trägt Dämonen in sich, doch hat er gelernt, dass er sie vielleicht nicht austreiben muss, um erfolgreich zu sein - sondern sie nur akzeptieren muss. "Ich schäme mich, wenn ich Schläger schmeiße, fluche und brülle; ich plane so was ja nicht", sagte er bei einer Video-Pressekonferenz kürzlich im Urlaub in Montenegro: "Ich bin allein auf dem Platz und muss mit den Dämonen umgehen, aber ich habe keine Angst zu sagen: Hey, ich bin nicht frei von Fehlern. Ich habe einen Fehler gemacht, und wahrscheinlich werde ich diesen Fehler wieder machen." Es sei nun mal nicht immer möglich, die beste Version seiner selbst zu sein - wer ist das schon? -, und er habe gelernt: "Ich kann mich nicht immer runterziehen, wenn es mir nicht gelingt."

Er hat auch gelernt, dass dieses Buhlen um die Gunst des Publikums - das er in frühen Jahren als Imitator der Konkurrenz forcierte - im Grunde sinnlos ist. Er sagte deshalb bei der Videoschalte auch: "Ich werde nicht versuchen, die Leute zu überzeugen, mich zu mögen. Ich werde authentisch und einfach nur ich selbst sein." Er selbst, das ist, gerade bei einem Triumph in New York: der nach unwiderlegbaren Kriterien erfolgreichste Tennisspieler der Geschichte. Oder eben: der Respektierte.

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