US Open im Tennis:Schönheit wird überschätzt

2020 US Open - Day 9

Über den Schatten gesprungen: Alexander Zverev lag bereits 1:6, 2:4 zurück, bevor er ins Match fand und es drehte.

(Foto: Al Bello/AFP)

Der Deutsche Alexander Zverev dreht eine knifflige Partie gegen Borna Coric und erreicht erstmals das Halbfinale von New York. Er zeigt sich mental stark - was vielleicht auch daran liegt, dass er diesmal selbst die Lösungen finden muss.

Von Jürgen Schmieder, New York/Los Angeles

Alexander Zverev guckte verblüfft in die Kamera und rückte sich die Maske zurecht. Er trug keinen schicken Schutz eines Sponsors oder etwas mit gesellschaftlicher Botschaft darauf, sondern eine hellblaue Einmal-Wegwerf-Maske. Ein Reporter hatte ihm nach dem Sieg im US-Open-Viertelfinale mitgeteilt, dass Tennis-Legende Martina Navratilova gesagt hätte, dass er mit so einer - frei übersetzt - Pille-Palle-Zockerei wie gegen Borna Coric (Kroatien) keine Chance habe, besonders viele Matches zu gewinnen, schon gar nicht gegen die Besten in diesem Sport.

Wer Alexander Zverev erlebt hat, weiß, dass nun ein paar Reaktionen möglich waren - von "Was ist das für eine Scheißfrage?" (US Open 2015) bis zum Verlassen des Video-Gesprächs (vor fünf Wochen) war vieles vorstellbar. Zverev wählte eine Mischung aus Roger Federer und Fußballer Per Mertesacker, der einen Reporter nach dem Achtelfinal-Sieg bei der WM 2014 auf den Hinweis spielerischer Mängel angeblafft hatte: "Was wollnse denn? Wollnse ne erfolgreiche WM - oder sollen wir wieder schön spielen und ausscheiden?"

Zverev rückte also seine Maske zurecht, er nahm sich Zeit, dann sagte er, es war der Federer-Teil der Antwort: "Sie ist natürlich eine mehrfache Grand-Slam-Siegerin, aber vielleicht sollte sie sich mal meine Bilanzen gegen die Besten ansehen." Er hat tatsächlich alle schon besiegt, Novak Djokovic aus Serbien im Finale der ATP-Finals 2018, seine Bilanz gegen Federer ist sogar positiv. "Ich weiß, dass ich besser spielen kann", sagte Zverev, und dann folgte der Mertesacker-Moment: "Aber ich bin jetzt im Halbfinale der US Open, zum zweiten Mal nacheinander bei einem Grand-Slam-Turnier, da interessiert mich diese Meinung nicht."

Einmal sieht es so aus, als würde er wieder implodieren - aber diesmal bewahrt Zverev die Ruhe

Seit Jahren wird Zverev als Auserwählter dieses Sports gefeiert, in dem er aufgewachsen ist, seit Bruder Mischa im Jahr 2005 Profi wurde. Sein Leben besteht, seit er acht Jahre alt ist, aus Tennis, Tennis und Tennis. Es ist natürlich schön, wenn einem der Weg so vorgezeichnet wird, und Zverev scheint diesen Weg auch gehen zu wollen. Aber doch gab es da eben ein paar Hürden in dieser immer noch sehr jungen Laufbahn - er ist erst 23 Jahre alt. Schön würde Zverev spielen, hieß es oft, aber gerade in Partien über drei Gewinnsätze würde er implodieren oder die Nerven verlieren. So werde das nichts mit den großen Triumphen.

Nun hat Zverev beim 1:6, 7:6 (5), 7:6 (1), 6:3 gegen Coric nicht schön gespielt, aber er behielt die Nerven, was gegen einen ausgebufften Gegner ein mentales Meisterwerk war - und die Leute sind immer noch nicht zufrieden? Was wollnse denn?

Man könnte nun über die spielerischen Mängel reden - Zverev hat zum Beispiel zu häufig die Kontrolle über Ballwechsel abgegeben, die vorsichtige Variante des zweiten Aufschlags ist immer noch wackelig, er baut zu viele Punkte mit Cross-Grundschlägen auf und ist somit arg vorhersehbar. Man könnte aber auch darüber reden, wie er so eine Partie voller Schwächen gewonnen hat, die es übrigens nicht nur beim Fußball gibt, sondern auch beim Tennis. Unvergessen ist der Netzroller von Boris Becker in der zweiten Runde der US Open 1989, mit dem er gegen Derrick Rostagno einen Matchball abwehrte - und das Turnier später gewann.

Zverev jedenfalls hatte seinem Gegner in den ersten beiden Sätzen jeweils ein Aufschlagspiel geschenkt, im ersten mit drei Doppelfehlern und im zweiten nach 40:0- Vorsprung mit Doppelfehler und drei leichten Fehlern an der Grundlinie. Da hatte er schon minutenlang mit der Schiedsrichterin Eva Asderaki-Moore debattiert - Zverev hatte Recht, was aber nicht half und die Sache gewöhnlich schlimmer macht; denn bei Zverev führte das bisher regelmäßig zu einer Implosion stellaren Ausmaßes. Er blickte dann nach fast jedem Ballwechsel hinauf zur Box, zu seiner Entourage, manchmal klagend, oft flehend.

Nur: Bei diesen US Open sitzen da nicht wie gewöhnlich sein Vater oder Bruder Mischa, beide fiebern von Europa aus mit (Mischa verdrückte während der Partie gegen Coric aus Nervosität einen kompletten Kuchen). Auch der neue Trainer David Ferrer (Spanien) ist nicht mit nach New York gekommen. Auf der Tribüne saßen Fitnesstrainer Jez Green und Physiotherapeut Hugo Gravil. Nur mal so ein Gedanke: Kann es sein, dass Zverev in dieser Partie eine Lösung gefunden hat, weil er alleine war?

Ein Tennisspieler kann ja so viele Leute um sich herum versammeln, wie er will - auf dem Platz ist er allein wie in kaum einer anderen Sportart. Coaching ist streng verboten, also müssen die Spieler selbst mit Brüchen während der Partie und mit schwierigen Momenten zurechtkommen. Viele blicken dennoch gerne nach oben zu ihren Vertrauten oder suchen Blickkontakt zu Zuschauern - die in diesem Jahr ebenfalls nicht da sind. So eine Partie ist deshalb, mehr noch als sonst, das Duell zweier Profis, die stundenlang mit sich alleine sind. Zverev musste alleine eine Lösung finden, und er fand sie.

In der nächsten Runde wartet der kampfstarke Spanier Pablo Carreño Busta

"Ich musste das erst lernen, dass gerade bei einem Spiel über fünf Sätze viel passieren kann", sagt Zverev nun. Bei den Australian Open in diesem Jahr verlor er gegen Stan Wawrinka (noch so einer der Besten) den ersten Satz ebenfalls mit 1:6 Punkten und kam zurück. Gegen Coric zeigte er zusätzlich zur Gelassenheit, dass er seinem Spiel ein paar Varianten hinzugefügt hat: Der vorsichtige zweite Aufschlag ist eine Schwäche? Knallt er ihn eben manchmal mit rund 220 km/h übers Netz, der Ertrag lohnt das Risiko. Der Gegner ist giftig und greift an? Dann zieht er sich extrem in die Defensive zurück, kontert präzise oder provoziert den Gegner dazu, zu viel zu wagen und Fehler zu begehen. Der Kontrahent deutet durch erneuten Wechsel der Kleidung innerhalb weniger Minuten an, dass er nervös ist? Volle Attacke.

Zverevs Erkenntnis: Es ist keine Schwäche, schlecht zu spielen; das kommt vor. Es ist eine Stärke, dennoch zu gewinnen.

In den USA gibt es eine Weisheit, der zufolge so ziemlich jeder brillant spielen und gewinnen kann - wahre Champions jedoch fänden auch in der Krise einen Weg, eine Partie oder ein Turnier zu gewinnen. Boris Becker sagte in seiner Zeit als Trainer von Novak Djokovic, es sei unvernünftig, bei einem Grand-Slam-Turnier spielerisch zu früh zu glänzen. Das solle man sich für die wichtigen Partien aufheben, im Fall von Zverev also für das Halbfinale am Freitag (ab 22 Uhr MESZ) gegen den Spanier Pablo Carreño Busta, der nach hartem Kampf gegen Denis Shapovalov (Kanada) 3:6, 7:6 (5), 7:6 (5), 0:6, 6:3 gewann.

Also: Was wollnse? Die Nationalelf ist 2014 nach dem Mertesacker-Moment Weltmeister geworden, und sie hat - es sei an dieses 7:1 gegen Brasilien acht Tage nach dem Gerumpel gegen Algerien erinnert -, auch spielerisch durchaus überzeugt.

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