Süddeutsche Zeitung

Tennis:Unfair Open statt US Open

Wer nimmt die Gefahren in Kauf, wer nicht? Viele Tennisprofis sagen für das Grand-Slam-Turnier in New York ab - die Wettbewerbsverzerrung ist enorm. Im Tennis fehlt eine Vision.

Kommentar von Gerald Kleffmann

In nicht einmal zwei Wochen sollen die US Open beginnen, inzwischen ist absehbar: Es wird ein Grand-Slam-Turnier, bei dem die Wettbewerbsverzerrung so groß sein wird wie seit Jahrzehnten nicht. Die letzte Phase, in der so viele Topspieler bei einem der vier größten Tennis-Events fehlten, war in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als Akteure oft die weite Reise zu den Australian Open nach Melbourne nicht antreten wollten.

Nun ist die Pandemie der Grund, warum sechs der zehn besten Spielerinnen passen - am Montag zog die Rumänin Simona Halep als vorerst Letzte zurück. Bei den Männern meiden Rafael Nadal, Stan Wawrinka, Nick Kyrgios und viele mehr die USA. Roger Federer ist verletzt, Kei Nishikori hat verkündet, Corona-positiv zu sein, dabei lebt der Japaner abgeschottet in Florida. All diese Voraussetzungen schließen aus, dass die Titelgewinne genauso gleichwertig betrachtet werden wie vor Covid-19. Selbst wenn Novak Djokovic und Serena Williams siegen sollten.

"Die Tenniswelt ist beschissen im Moment"

Dem Tennissport muss man zugute halten, dass er die komplizierteste Disziplin für eine Pandemie ist. Weil er derart verstreut operiert und dann an einem Ort zusammengeführt wird. Natürlich streben sie in New York eine Blase an - in der aber so viel Bewegung herrschen wird wie auf einem Rummelplatz. Das erhöht das Risiko für alle. Allein das An- und Abreisen, das Hin und Her der Shuttles, das Testen, Abriegeln im Hotel: ein Wagnis. Daran muss man erinnern, da Männertour ATP, Frauentour WTA und US-Open-Ausrichter USTA das Comeback ihres Betriebs so promoten. Nur kann man die Lage auch sehen wie Profi Noah Rubin bei Spox.com: "Die Tenniswelt ist beschissen im Moment. Wir haben sechs Monate verschwendet." Ihm fehle eine Vision. Recht hat er.

Einen gemeinsamen Masterplan der Fraktionen in der Krise gibt es jedenfalls nicht. Federer hatte vor seinem Rückzug in die Reha vorgeschlagen, ATP und WTA sollten zusammenrücken. Dann kam jene Pause, die Rubin meint - jetzt schaffen es die Dach-Touren gerade, sich auf manche Presseerklärung zu einigen. Ansonsten macht jeder sein Ding, wie unterschiedliche Sicherheitsprotokolle von ATP- und WTA-Events belegen. Weil das Virus zwischen Frauen- und Männerrückhand unterscheidet? Jeder will die Entscheidungshoheit, klar. Folglich versucht auch jedes Turnier sich in den Kalender zu quetschen. Selbst wenn die Route Palermo - New York - Rom abgejettet werden muss.

Als könne man mit dem Virus verhandeln

Ob etwas sinnvoll, vernünftig ist, ist im Tennis, so der Eindruck, während dieser Pandemie nicht immer von Relevanz. Vorsorglich zum Beispiel wurde die Politik bereits bearbeitet, um bei der Rückkehr von New York nach Europa die Quarantäne umgehen zu können. Als könne man mit dem Virus verhandeln. Und das Theater um Djokovic' Adria Tour zeigte: Profis definieren gern selbst, wie schlimm alles ist. Dominic Thiem postete jetzt ein Gruppen-Foto vor dem Abflug - alle ohne Maske.

Der Restart der Grand-Slam-Saison wäre sicher leichter zu planen gewesen, hätten man nur in Europa einen Turnier-Swing aufgezogen. Oder dazu in den USA auch einen. Aber zu viele sitzen am Monopoly-Tisch, da steckt keiner zurück. Die US Open etwa müssen für die klammer gewordene USTA Geld generieren. So sind die Profis - unter sich auch uneins - genötigt, zu entscheiden, ob sie in New York antreten oder nicht, nach dem Motto: Wer traut sich die Strapazen zu und nimmt die Gefahren in Kauf, wer nicht? Für einen fairen Wettbewerb ist das keine Basis.

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SZ vom 19.08.2020/sonn
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