Es war eine der seltsamsten Statistiken im Tennis: Für Emma Raducanu stand bis zu Turnierbeginn bei den US Open noch nie ein Matchgewinn zu Buche, mit Ausnahme des Jahres 2021 – da hielt sie am Ende den Pokal der Turniersiegerin hoch. In jenem Sommer hatte die damals 18-jährige Britin gleich bei ihrer ersten Teilnahme inklusive Qualifikationsrunden zehn Matches in Serie für sich entschieden, seitdem aber: zweimal das Aus in der ersten Runde, eine verletzungsbedingte Absage 2023. Das ist auch der Grund gewesen, warum Raducanu diesmal nach dem lockeren 6:1, 6:2 gegen die Japanerin Ena Shibahara in der ersten Runde strahlte, als hätte sie gerade ihren zweiten Grand-Slam-Triumph gefeiert. Später sagte sie: „Ich war sehr nervös, schon morgens im Training, weil ich hier unbedingt mal wieder eine Partie gewinnen wollte.“
Die Reaktion auf ihr zweites Match, einen weiteren überzeugenden Sieg, 6:2, 6:1 gegen Janice Tien aus Indonesien, sah anders aus: routinierter Gang ans Netz, Handschlag, Gruß ans Publikum – wie jemand, der etwas erledigt hat, nun aber dringend woanders hinmuss.

Eva Lys bei den US Open:„Ich will zeigen, dass man trotz der Krankheit auf Topniveau spielen kann“
Tennisprofi Eva Lys leidet an einer rheumatischen Autoimmunkrankheit – und muss akzeptieren, dass sie gute und schlechte Tage hat. Bei den US Open glaubt sie an viele gute.
So interpretiert Emma Raducanu die ersten Runden: als ein Treppenhaus. Muss man halt durch, wenn man nach oben will. Der Verlauf ihrer Karriere hat jedenfalls eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Denn sie erlebt nach dem Triumph von 2021, was alle anderen bereits vorher durchmachten. Um eine Analogie in New York zu finden, wo die US Open stattfinden: Alle wollen rauf aufs Empire State Building, jedes neue Stockwerk werten sie als Bestätigung für den richtigen Weg. Raducanu aber war längst oben auf der Aussichtsplattform; sie weiß, wie das ist. Danach wurde sie jedoch immer unten am Eingang abgewiesen und fragte sich: Und wie komme ich da jetzt wieder hoch?
Bei Raducanu ergibt sich ein kleiner, aber spannender roter Faden der Analogie zum deutschen Profi Alexander Zverev
Ihr Weg nach dem Höhenflug ist gut dokumentiert, ein Schnelldurchlauf: die vernichtenden Berichte der berüchtigten britischen Presse nach dem frühen Wimbledon-Aus 2022, bei dem sie wertvollen Sponsorenschmuck getragen hatte; die Lästereien, dass sie Trainer wechseln würde wie andere Profis ihre Schläger; die Vergleiche mit einem One-Hit-Wonder der Popmusik. Nach ihren Operationen an beiden Handgelenken sowie am linken Knöchel 2023 kamen die Mutmaßungen hinzu, dass es wohl nichts mehr werde mit einem zweiten Grand-Slam-Triumph, überhaupt einem Turniersieg; der Titel von New York ist nach wie vor bislang der einzige ihrer Karriere.
Aber was, wenn es überhaupt kein Absturz war? Sondern die Rückkehr einer jungen Spielerin in die Normalität nach einem Ruckler in der Tennis-Matrix?
Damit in die Gegenwart, in der eine 22 Jahre alte Profispielerin von Platz 26 der Weltrangliste nach oben möchte und gegen die Besten bestehen will. Von den Topspielerinnen hatte sie ordentlich auf die Mütze gekriegt in der ersten Jahreshälfte: 1:6, 0:6 gegen die Polin Iga Swiatek in Melbourne, erneut 1:6, 2:6 gegen Swiatek bei den French Open. Dann 1:6, 2:6 gegen Coco Gauff (USA) in Rom. 2:6, 4:6 gegen Olympiasiegerin Qinwen Zheng in Queens.
Hier ergibt sich ein kleiner, aber spannender roter Faden der Analogie zum deutschen Profi Alexander Zverev: Der war im Finale der Australien Open zu Jahresanfang ebenfalls brutal geschlagen worden, 3:6, 6:7, 3:6 durch Jannik Sinner. Die aktuelle Zusammenarbeit mit Rafael Nadal und dem Trainer Toni Nadal gibt es nur, weil Zverev sich nach eigener Aussage folgende Frage stellte: „Wie besiege ich die Besten der Welt?“ Er sei deshalb auch bei den US Open oft mit den Nadals in Kontakt, auch wenn sie nicht in New York anwesend sind.
„Wie besiege ich die Besten der Welt?“ Das ist auch die Frage, die Alexander Zverev sich stellt
Raducanu stellt sich die gleiche Frage, und sie wähnt sich wie Zverev auf dem Weg nach oben – aktuell ungefähr in Stockwerk 60 von den 102 Etagen des Empire State Buildings. „Ich habe noch einen weiten Weg vor mir, aber ich glaube, dass ich Schritte mache, um den Abstand zu verringern“, sagte sie nach der Partie am Mittwoch. Bestätigt sieht sie sich durch zwei enge Partien gegen die Weltranglistenerste Aryna Sabalenka in Wimbledon (6:7, 4:6) und Cincinnati (6:7, 6:4, 6:7): „Das gab ordentlich Selbstvertrauen. Ich glaube an mich und meine Fähigkeiten.“
Und ihre Fähigkeiten sind außerordentlich. Sie hat sichtbar an ihrer Fitness gearbeitet, und das führt zu drei Vorteilen: Sie steht früher und besser zum Ball. Bei ihrer einst häufig wackeligen Vorhand kompensiert sie fehlenden Schwung aus dem Handgelenk wegen der Operationen mit Hüftrotation aus den Beinen. Außerdem schlägt sie deutlich wuchtiger auf. „Ich erkenne, was ich im Training zu leisten imstande bin“, sagt sie, „und seit ein paar Wochen sehe ich die Ergebnisse auf dem Platz.“ Etwa Erfolge gegen Naomi Osaka und Maria Sakkari, das knappe Match gegen Sabalenka. Seit Anfang August arbeitet sie mit Trainer Francisco Roig, der – eine weitere Mini-Parallele zu Zverev – früher einmal 17 Jahre lang der Assistent von Toni Nadal im Trainerteam Rafael Nadals war.
„Er hat eine Ruhe und Gelassenheit an sich, die mir auf und abseits des Platzes hilft, nicht dauernd eine Perfektionistin sein zu müssen“, sagt sie. Sie darf also eine junge, aufstrebende Spielerin sein und muss nicht die Grand-Slam-Siegerin geben: „Ich spüre, dass ich besser und besser werde, dass ich mich entwickle.“ Natürlich weiß Roig aus der Zeit mit den Nadals auch, wie man gegen die Besten der Welt gewinnt, das bleibt das Ziel. Bei den ersten Partien war Roig auffällig aktiv am Spielfeldrand. Am Freitag kommt es nun zum ersten richtigen Test, Raducanu trifft auf die an Nummer neun gesetzte Jelena Rybakina, die Wimbledonsiegerin von 2022. „Sie hat Sabalenka in Cincinnati geschlagen, das ist also ihr Level“, sagt Raducanu: „Wollen wir doch mal sehen, wie es ausgeht.“
Es kommt oft auf die Perspektive an. Die aufstrebende Tennisspielerin Raducanu kann sich ohne Druck entwickeln, sie war ja schon ganz oben. Lieber ein One-Slam-Wonder als ein No-Slam-Wonder. Und so kann man ihre US-Open-Statistik auch anders deuten. Statt nur die Niederlagen nach 2021 zu erwähnen, ließe sich auch feststellen: Wann immer Emma Raducanu auch nur eine Partie gewann in New York, hielt sie am Ende die Trophäe hoch.

