Wer als Tennisprofi das Arthur Ashe Stadium betritt, muss auf dem Weg zur Umkleide an Fotos früherer Sieger vorbei – und hinter dem Kabineneingang an der Wand schwarz auf weiß lesen, wer die US Open im Einzel bereits gewonnen hat. Taylor Fritz sah also das Porträt von Novak Djokovic, viermaliger Champion, gegen den er bereits zehnmal in seiner Karriere verloren und kein einziges Mal gewonnen hatte. Auf dem Weg zum Platz passierte er dann noch ein weiteres, 1,50 Meter hohes Bild von Djokovic in Aktion. Er bekam also unmissverständlich mitgeteilt, gegen was für einen Großen er würde bestehen müssen.
Nervös war Fritz, was unter anderem daran zu sehen war, dass er sich das Stirnband falsch herum gebunden hatte. Natürlich erschnüffelt Djokovic das. Fritz ist als Nummer vier der Welt mittlerweile selbst ein recht Großer der Branche. Was sagt es also aus, wenn so jemand eine Partie weitgehend dominiert, 13 Breakbälle erspielt und bis zum letzten Aufschlagspiel nur sechs zulässt – und trotzdem 3:6, 5:7, 6:3, 4:6 verliert? Und dazu noch Djokovic mit Verweis auf Müdigkeit andeutet, dass er die Partie gern in drei Sätzen gewonnen hätte? Das Selbstverständnis dahinter lautet wohl: Mag sein, dass der andere der Bessere ist – aber gewinnen tue schon noch ich. Djokovic ist eben nicht nur groß; für viele ist er der Größte der Geschichte. Wer würde sich bei diesem Selbstverständnis für den Favoriten gegen den 38-jährigen Mentalmeister halten?
Um genau diese Frage geht es nun vor den letzten Partien der Männer bei diesen US Open: Wer ist Favorit gegen wen? Jannik Sinner etwa hat in diesem Jahr bislang überhaupt nur gegen zwei Leute verloren, Alexander Zverev, zum Vergleich, gegen 17. Klar, wegen seiner Dopingsperre hat Sinner weniger Turniere absolviert, und doch war die Partie gegen Alexander Bublik (Kasachstan), der Sinner als einer der zwei Profis kürzlich in Halle besiegt hatte, ein unfassliches Statement. Bublik war nach dem US-Open-Achtelfinale tatsächlich stolz darauf, in jedem Satz je ein Spiel gewonnen zu haben (6:1, 6:1, 6:1). Danach teilte er Sinner mit: „Krank, wie gut du bist.“
Die beiden, denen man einen Sieg gegen Sinner zutraut, spielen am Freitag im Halbfinale gegeneinander. Es ist keineswegs übertrieben zu sagen: Djokovic und der Spanier Carlos Alcaraz, der andere Sinner-Besieger zuletzt, haben ihren jeweiligen Plan einzig auf dieses Ziel ausgelegt: sich die Partie gegen Sinner bei den Grand Slams erspielen – und sie gewinnen.
Djokovic hat seinen Aufschlag verändert, um Kraft zu sparen
Djokovic will bekanntermaßen seinen 25. Grand-Slam-Titel, um auch in dieser Statistik geschlechterübergreifend unantastbar zu sein. Wenn er bei anderen Turnieren wie in Genf oder Miami das Finale erreicht: gut. Sollte er gleich die erste Partie gegen Botic van de Zandschulp (in Indian Wells), Alejandro Tabilo (Monte Carlo) oder Matteo Arnaldi (Madrid) verlieren: auch okay, hat er doch alles schon gewonnen. Zu den Sommerturnieren in Nordamerika vor New York kam er gar nicht. Djokovic konzentriert sich ganz auf die Slams, so wie es Serena Williams im Spätherbst ihrer Karriere erfolgreich vorgelebt hatte.
„Ich kann variabler spielen“, sagt Djokovic darüber, dass er nochmals am Aufschlag getüftelt hat. Die schnellere (im Schnitt sieben km/h mehr als in der Vorsaison) und dennoch konstant präzise Eröffnung („Ich treffe die Stellen, die ich will“) erlaubt es ihm, Punkte schneller zu beenden und Kräfte zu sparen für jene Ballwechsel, in denen er, wie er sagt, „ackere und rackere, wie ich es schon immer getan habe“. Das sind die Momente, in denen er Gegnern erst die Beine und dann die Seele raubt; er setzt sie nun nur viel bewusster ein. So besiegte er Alcaraz bereits bei den Australian Open trotz eines Muskelrisses im Oberschenkel mit einer taktischen und mentalen Meisterleistung.
Djokovic hat den schwierigeren Weg zum Titel: erst Alcaraz, dann vielleicht Sinner
Damit ist man schon beim Gegner, der in New York ebenfalls von Veränderungen auf Mikroebene berichtet, wie der Planung für die Tennissaison. „Viele Leute haben gesagt, dass ich nicht so konstant bin, wie ich sein müsste. Natürlich habe ich meine Auf und Abs“, sagt Alcaraz. Sein Niveau ist an schlechteren Tagen niedriger als das von Sinner bei dessen mäßigeren Partien, aber an perfekten Tagen kann Alcaraz selbst einen perfekten Sinner besiegen. Dreimal hat er das in dieser Saison bereits geschafft, unvergessen das French-Open-Finale.
„Ich musste erst lernen, gute Phasen zu kreieren; im Kleinen und im Großen“, sagt Alcaraz nun in New York. Also: Bei Schwächephasen nicht zu viel Zeit auf negative Gedanken verschwenden („Die sind intensiver als die positiven“) und gleich einen Satz verlieren. Auf größerer Ebene gönnte er sich zum Beispiel nach den French Open erst mal Urlaub auf Ibiza, anstatt sich sofort auf die Rasensaison vorzubereiten wie viele andere: „Das hilft, die nächste Turnierphase mit viel Energie und mentaler Frische anzugehen; dann spiele ich am besten.“ Bei allen sieben Turnierteilnahmen seit Mitte Mai war Alcaraz jeweils im Endspiel, sechs davon gewann er. Einzige Niederlage in 35 Partien: gegen Sinner im Endspiel von Wimbledon.
Von den drei Titanen treffen nun also erst einmal Djokovic und Alcaraz aufeinander. Es schreiten am Freitag zwei Spieler auf die Anlage, die sowohl an ihren Fotos vorbeilaufen als auch an denen des Gegners. Zwei der Größten, die alles nur darauf ausgelegt haben, einander zu besiegen in New York. „Ich habe jetzt zwei Tage, meinen Körper so in Form zu bringen, dass ich fünf Sätze gegen Carlos bestehen kann. Gerade bin ich sehr, sehr müde“, sagte Djokovic. Mental wirkt er aber absolut bereit. „Ich habe zu Beginn des Jahres gesagt, dass ich bei den Slams mein bestes Tennis zeigen will; in den großen Matches auf den großen Bühnen. Hier sind wir also. Ich habe eine weitere Chance – wenn ich fit genug bin und gut spiele, dann kann dieses Match jeder gewinnen.“
Nun wartet also Alcaraz und danach möglicherweise Sinner. Sollte Djokovic, im Alter von 38 Jahren und mit diesem Pfad zum Titel, tatsächlich sein 25. Grand-Slam-Turnier gewinnen, sollten sie dringend über eine neue Fotogröße im Arthur Ashe Stadium nachdenken.

