Es wird gerade viel über Timing gesprochen in der NBA. Zum Beispiel darüber, dass Vereine schon wenige Stunden nach dem Titeltriumph der Boston Celtics mit Spielern ihres Kaders verhandeln dürfen, deren Verträge auslaufen – also noch vor der Talentbörse nächste Woche einige Weichen stellen oder die Draft-Strategie anpassen. Nach der Auswahl der Topspieler gibt es ein kurzes Zeitfenster, in dem Spieler und Vereine Optionen ziehen können: also entscheiden, ob sie bleiben beziehungsweise Akteure weiterhin beschäftigen wollen. Direkt danach beginnt das offene Werben um Akteure ohne Vertrag – die sogenannte Free Agency; verhandelt wird von 30. Juni an, Verträge unterschrieben ab 6. Juli.
Kurz: In den kommenden zwei Wochen werden viele wichtige Aspekte nicht bloß der kommenden Saison verhandelt. Die große Zeit der Glaskugel-Blicker bricht an. Im Zentrum der Ereignisse und Gerüchte stehen die Los Angeles Lakers, die gerade verarbeiten müssen, dass der ewige Rivale aus Boston mit dem 18. Titel an ihnen vorbeigezogen ist. Sie werden alles dafür tun, dass niemand über die Celtics reden wird – sondern alle über die LA Lakers. Erstes Beispiel? Donnerstagfrüh boten die Lakers J.J. Redick einen Vierjahres-Vertrag als Cheftrainer an, den der kaum ausschlagen kann. Sie werden LeBron James junior in der zweiten Draft-Runde wählen; und dann wird LeBron James senior bis 29. Juni erklären, dass er bei den Lakers bleiben und als Erster der NBA-Geschichte gemeinsam mit seinem Sohn auf dem Parkett stehen wird – nicht umsonst nennt man die Lakers die Showtime-Franchise.
James hält die Fäden in der Hand, nicht nur, wenn es um Basketball geht
Was für eine Geschichte, und genau darum geht es doch inzwischen im Profisport: ums Erzählen von Geschichten, damit die Leute unterhalten werden. Damit sie Tickets und Trikots kaufen, TV- und Streaming-Abos für Livespiele abschließen, auf diese Spiele Wetten abschließen oder nach diesen tollen Schuhen suchen, die dieser Spieler auf dem Weg zur Kabine getragen hat, der mit unfasslich viel Rizz (an alle über 40: kurz für „Charisma“). Es ist eine Dauer-Druck-Bespaßung, genau deshalb werden diese Aspekte für die kommende Saison direkt nach dem Ende der Finalserie verhandelt, das Interesse muss weiterköcheln – mit Geschichten wie jener über LeBron James.
Niemand ist besser in diesem Sport-Entertainment-Business als LeBron James senior; er ist deshalb eine der einflussreichsten Personen, weit über Sport und die USA hinaus – was schon daran zu erkennen ist, dass sein Schweigen zu Menschenrechten in China 2020 zum Politikum wurde, in den USA und in China. Noch ein Beispiel, Stichwort Timing: Am 18. März startete der Podcast „Mind the Game“, in dem sich James mit dem ehemaligen NBA-Scharfschützen Redick über die feinen Nuancen dieses Sports unterhält. Die beiden präsentieren sich als Basketball-Savants, als Sport-Intellektuellen-Duo. Kurz darauf entließen die Lakers Cheftrainer Darvin Ham, und nun ist der neue Trainer bekannt: J.J. Redick.
Die Fäden in der Hand hält James, 39, und zwar nicht nur, wenn es um die Lakers, die NBA oder Basketball geht. Er hat ein einzigartiges Imperium geschaffen, in dem Weichen gestellt sind dafür, dass James bis ans Lebensende eine der einflussreichsten Personen bleibt; über Sport und die USA hinaus.
Um zu verstehen, wie gewaltig dieses Netz von James ist, wie alle Fäden bei ihm zusammenlaufen, sollte man sich an eine Begegnung im Jahr 2002 am Flughafen von James’ Heimatstadt Akron im Bundesstaat Ohio erinnern: Der damals 17-jährige James sah einen Typen mit viel Rizz, er wollte dessen Originaltrikot des Football-Stars Warren Moon haben. Der Typ, damals 21 Jahre alt: Rich Paul. „Er hat gewusst, dass ich seine Hilfe brauchen würde“, sagt James in Pauls Autobiographie „Lucky Me“: „Er hat mir geholfen, in diesem Chaos Stärke zu finden.“ Rich Paul wurde James’ Manager und gründete die Agentur Klutch Sports, die mittlerweile 400 Profis vertritt, darunter James’ Lakers-Superstar-Partner Anthony Davis sowie die Football-Größen Jalen Hurts und Odell Beckham Junior.
Seinen Aufstieg zum Milliardär hat er skandalfrei geschafft
Zu James’ Sternensystem gehört auch Jugendfreund Maverick Carter, der früh verstanden hatte, dass sich Promis heutzutage nicht mehr von Journalisten interviewen lassen müssen, um Botschaften zu senden. Die beiden gründeten den Konzern Spring Hill, die James’ Talkshow „The Shop“ (2018) produzierte, den James-Film „Space Jam – A New Legacy“ (2021) – und den Podcast mit Redick. Das Unternehmen hat Deals mit nahezu allen Hollywood-Platzhirschen, darunter Netflix, ABC, Universal – und kümmert sich um den Youtube-Kanal der neun Jahre alten James-Tochter Zhuri, deren Videos millionenfach angesehen werden. James tritt hin und wieder auf, genauso wie Ehefrau Savannah; die selbst als ausgebuffte Geschäftsfrau gilt, in Tech-Startups investiert und Möbel entwirft. Der älteste Sohn soll Basketballprofi werden, der 17 Jahre alte Bryce (ebenfalls begabter Basketballspieler wie Vater und Bruder und vertreten von Klutch Sports) weiß noch nicht, ob er Sportler oder was anderes werden will; die Sprungbretter sind schon montiert.
Man muss kein James-Fan sein und den ultrakapitalistischen US-Sport nicht gutheißen – was aber wohl viele empfinden: Respekt vor James, der sich aus ärmsten Verhältnissen zum NBA-Profi und Milliardär hochgearbeitet hat. Der das erstens skandalfrei hinbekommen hat (wer schafft das noch heutzutage?) und sich zweitens mithilfe seines Netzwerks befreit hat von allen Zwängen, die der reglementierte US-Sport mit sich bringt. James entscheidet, was James tut – das ist wahre Freiheit.
Bei den Lakers bekommt James, sollte er die Option für die kommende Saison ziehen, 51,4 Millionen Dollar. Über Werbeverträge kommen 55 Millionen Dollar hinzu. Sein Vermögen wird auf 1,2 Milliarden Dollar geschätzt; niemand zweifelt daran, dass er – sobald die Regeln das erlauben – eine NBA-Franchise nach Vegas bringen wird; über die Fenway Sports Group ist er bereits am Baseballklub Boston Red Sox und Fußballverein FC Liverpool beteiligt. Es soll nach der Eishockey-Franchise Golden Knights (2019 gegründet, Meister 2023) und Umzügen des NFL-Teams Raiders (2020) und des Baseballklubs Athletics (spätestens 2028, derzeit noch Oakland) die vierte Profi-Franchise innerhalb weniger Jahre sein, dazu gastiert seit 2023 die Formel-1 in Vegas. James wäre also mal wieder zur richtigen Zeit am lukrativen Ort – und wieder mittendrin.
Nach seinen Basketball-Stationen in Miami (die „Glamour-Phase“) und Cleveland (die „Heimkehrer-Phase“, wo er in Schulen investierte und ein Museum sein Jugendzimmer nachgebaut hat“) wäre Los Angeles der ideale Ort zum Fortschrieb der Legende: Derzeit baut die Familie in Beverly Hills eine Villa nach ihren Wünschen, sie hatte das Grundstück 2020 für knapp 37 Millionen Dollar gekauft. Der Flug nach Las Vegas – James reist gerne im eigenen Privatjet – dauert nicht mal eine Stunde.
James und die Mavericks – die Vater-und-Sohn-Geschichte könnte woanders weitergehen
Kurzes Fazit: James verlängert bei den Lakers, schreibt als Vater-Sohn-Gespann mit dem Junior Geschichte; die meisten Punkte der NBA-Geschichte (aktueller Stand: 40 474) hat er schon – und spielt demnächst unter einem Trainer, der sein Podcast-Kollege ist. Danach bleibt er als Teambesitzer, Medienmogul, Werbefigur, Schauspieler, Immobilieneigentümer, Investor (Beats by Dre, Blaze Pizza) und Unternehmer im Zentrum seines eigenen Sonnensystems; als einer der ganz wenigen Sportler der Geschichte, die über ihrer Disziplin schweben, losgelöst von Zwängen.
Was kann da schon schiefgehen?
Einzige Gefahr aus der Sicht von James sr.: Ein anderer Klub verpflichtet James jr., bevor die Lakers zum Zug kommen. Dieses Szenario präsentiert NBA-Insider Marc Stein, der einst als Dallas-Mavericks-Reporter der einzige Journalist im engeren Umfeld von Dirk Nowitzki war und somit bestens informiert ist: „Die Mavericks haben Interesse daran, Bronny mit dem 58. Pick dieses Drafts zu wählen.“ Die Lakers wählen an 55. Stelle, Stand jetzt scheint das der für James jr. reservierte Pick zu sein.
Aber was wäre, wenn die Mavericks über ein Tauschgeschäft den, sagen wir, 53. oder 54. Pick kriegen? Milliardär Mark Cuban, auch nach dem Verkauf seiner meisten Anteile an den Mavericks inzwischen Chef des sportlichen Bereichs, ist für sein Timing-Gespür bekannt. Er hat letztlich seine Aktien an jene verkauft, die den Mavericks eine Luxushalle mit Hotel und Casino bauen wollen. Was wäre nun besser fürs Geschäft? Wenn die Leute nicht über die Celtics reden würden und auch nicht über die Lakers? Sondern über die Mavericks? Wenn er der Vater-Sohn-Story eine nächste Heimat geben und zugleich den Finalteilnehmer der gerade beendeten Saison mit einer Aktion zum Titel-Favoriten der nächsten machen könnte?
Um dieses Szenario zu verhindern, mussten die Lakers schneller sein und der Geschichte diesen Twist mit der Redick-Verpflichtung geben; der nichts anderes bedeutet als: Der wahre Lakers-Trainer wäre James, so wie er der wahre Autor dieser einmaligen Story ist. Am Ende bestimmt er, James senior, allein. Das versteht man unter größtmöglicher Freiheit im US-Sport.