Süddeutsche Zeitung

Uruguay:Zeremonienmeister

Und noch ein Pariser Stürmer als Achtelfinal-Held: Edinson Cavani verkörpert mit Toren und rastloser Aufopferung die beeindruckende Team-Leistung.

Von Javier Cáceres, Sotschi

Oscar Washington Tabárez, 71, kam in den Presseraum, er setzte sich, verstaute seine Krücke unter dem Tisch und fürchtete, von Gefühlen überwältigt zu werden, als er sich anschickte, die erste Frage zu beantworten.

"Ich möchte jetzt ungern Ergriffenheit zeigen", sagte Tabárez. Aber wenn es etwas gebe, was er vor allen Dingen herausstellen wolle und das ihn doch rührte, dann dies: "Die absolute Hingabe", mit der seine Mannschaft den Europameister Portugal niedergerungen hatte. Uruguay, ein Land von nicht mal 3,5 Millionen Einwohnern und gleichwohl zweimaliger Weltmeister, zog in Sotschi zum siebten Mal in seiner von Fußball durchzogenen Geschichte in ein Viertelfinale der WM ein.

Und Tabárez erzählte, wie alles begann.

Denn es begann nicht auf dem Rasen, nicht bei den Hymnen, nicht beim Anpfiff. Es begann im Spielertunnel: "Ich kam etwas später", sagte der alte Mann, der seit geraumer Zeit etwas länger braucht, weil er wegen einer unheilbaren Nervenkrankheit kaum noch gehen kann.

Was er sah, war ein Zeremoniell, dem etwas Religiöses innegewohnt haben muss, etwas Mystisches, Beschwörendes. Diego Godín, der als Kapitän Uruguays so groß zu werden scheint wie der Spielführer des Weltmeisterteams von 1950, Obdulio "El Negro" Varela, hatte die anderen zehn Spieler um sich geschart, zu einer Liturgie, die alles in sich barg, was Uruguays Fußball auszeichnen sollte. Godín erinnerte seine Kameraden daran, für wen sie die weite Reise in den Kaukasus unternommen hatten, warum sie am Schwarzen Meer gelandet waren, um Portugal zu begegnen: "Wir spielen für die Mutter, für den Vater, für den Bruder, für die Schwester, für den Nachbarn. Und deshalb ist keine Anstrengung zu viel", rief Godín in die Runde.

"Und so war es dann auch", sagte Tabárez, als das Spiel vorüber und das 2:1 ein Fakt war, den ihm niemand nehmen konnte. "Die Hingabe", mit der seine Mannschaft agierte, sei "inkommensurabel" gewesen, sagte Tabárez: nicht messbar.

Und fürwahr: Es gab kein Joule Energie, das die Uruguayer nicht verbrannt hätten. Uruguays Vortrag war der Inbegriff der Mannschaftsleistung. Jeder betrieb den gleichen Aufwand wie sein Nebenmann - vor allem Stürmer Edinson Cavani, der eben nicht nur Schütze zweier blendender Tore war. Sondern auch ein Musterbeispiel der Aufopferung.

Wer die sogenannte Heatmap studierte, die nachzeichnet, wo sich ein Spieler auf dem Platz aufhält, der sah, dass Cavani so gut wie auf dem ganzen Platz präsent war - gut 70 Minuten lang, dann musste er wegen einer Wadenverletzung vom Platz, von der zunächst nicht feststand, ob sie ihn am Viertelfinale gegen Frankreich hindern wird. Dick bandagiert humpelte Cavani zum Mannschaftsbus: "Das Schönste, was wir mitnehmen, ist unsere Freude und die Gewissheit, dass jeder Tropfen Schweiß sich gelohnt hat", sagte er.

45 Tore hat Cavani, 31, nun für die Nationalmannschaft erzielt, die beiden vom Samstag zählen zu den schönsten und ergreifendsten, die er im himmelblauen Dress der Uruguayer geschossen hat. Das erste war ein Sinnbild für das Spiel der Uruguayer: ein Generalgesang an die Entschlossenheit. Die Uruguayer hatten den Ball aus ihrem Strafraum herausgespielt, bis er etwa in der Mitte der portugiesischen Hälfte an der rechten Außenlinie landete, bei Cavani. Er schlug einen 40-Meter-Pass auf die gegenüberliegende Seite, wo Sturmpartner Luis Suárez stand. Und Suárez schlug, nach ein, zwei Haken, eine stramme Flanke, die Cavani am Fünfmeterraum weder mit dem Kopf, dem Ohr, dem Hals, der Schläfe, der Schulter, sondern mit Herz und Seele ins Tor wuchtete (7.).

So einen Doppelpass über 40, 50 Meter habe er bei Uruguay "noch nie gesehen", gestand Portugals Trainer Fernando Santos nach der Partie, als trauere er den ganzen Stunden hinterher, in denen er die Automatismen der Uruguayer zu verstehen versuchte. Nutzlos: "Die Entscheidungen auf dem Platz treffen die Spieler", hatte Uruguays Trainer Tabárez am Vorabend gesagt.

Das zweite Tor Cavanis, das dem 1:1 durch Pepe (55.) folgte, war der bezaubernde Abschluss eines Konters: Torwart Muslera schlug den Ball nach vorn, ein Mittelfeldspieler legte ihn quer, und Cavani kickte den Ball vom Sechzehner mit dem Innenrist halbhoch ins Netz. Der Rest war ein wegen der verbrauchten Kalorien selbstzerstörerischer, letztlich souveräner Kampf ums Überleben. Es ist ein Kampf, bei dem die Uruguayer sich in ihrem Element fühlen. Die WM 2010 eingeschlossen, habe sein Team sieben WM-Spiele bestritten, so Tabárez, nur ein Mal sei der Ballbesitz ausgeglichen gewesen (2010 gegen Südafrika), sonst sei man in dieser Rubrik stets unterlegen gewesen. So auch im Spiel gegen Portugal, in dem Godín und Giménez, die beiden Innenverteidiger, mit der Präzision moderner Flaks jeden Angriff der Portugiesen deaktivierten, der die ersten Verteidigungsringe Uruguays überstanden hatte.

Denn das war es ja, eine Schlacht, die in Vollendung wiedergab, was sich die Uruguayer bei dieser WM vorgenommen haben: Man wolle jedes Spiel "erbarmungslos genießen", wie es Godín ausdrückte.

Ronaldo? Ein Schuss von ihm war alles, was Uruguay, eine Mannschaft ohne Egos, zuließ. Dank einer perfekten defensiven Organisation, in der Ronaldo sich so hilflos bewegte wie ein Raubtier in einem Käfig.

"Ich bin glücklich, glücklich, glücklich", sagte Cavani, "wir müssen weiterträumen." Vier WM-Siege nacheinander hat es für Uruguay nur ein Mal gegeben, 1930 im eigenen Land, als sie erstmals den Titel gewannen. "Ay Celeste, regalanos un sol", "schenk uns eine Sonne, du Himmelblaue", heißt es in dem Lied, das Uruguays Nationalteam ausgesucht hat und das bei seinen Spielen aus den Lautsprechern der WM-Stadien ertönt. Es stammt von einer Gruppe namens No te va Gustar, "Es wird dir nicht gefallen". Doch dieses Uruguay gefällt. Sehr sogar.

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Quelle:
SZ vom 02.07.2018
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