Union Berlin:Wimmelbild in Weiß und Rot

Stagediving wie bei Iggy Pop: Union Berlin feiert den historischen Aufstieg in die erste Bundesliga und will sich trotzdem nicht verändern. Gegen Stuttgart profitieren die Berliner allerdings auch von einer abenteuerlichen Abseitsstellung.

Von Javier Cáceres, Berlin

Es war wahrlich ein Abend gewesen, der nach innerer Einkehr verlangte. Nach Erdung. Ein Abend, an dem in Köpenick alles gen Himmel flog, was nicht zu greifen ist: Seelenglück, Träume und Wolken, die aus pyrotechnischen Erzeugnissen und Kräutern stammten.

Aber musste es gleich so surreal sein?

Das Spiel war längst vorüber, doch im Stadion tummelten sich noch immer Tausende auf dem Rasen, sofern er noch vorhanden war: Unzählige Menschen hatten Stücke aus dem Grün herausgeschnitten, trugen sie später wie eine Reliquie durch den Wald, der an das Stadion An der Alten Försterei grenzt. Und dann saß er da: ein Hippie im Schneidersitz, der sphärische Klänge aus einem Didgeridoo presste, das auf einem Holzkasten ruhte, während er gleichzeitig auf einer Djembé trommelte. Die Münzen flogen ihm zu, aus den Taschen von Menschen, die voll Dankbarkeit waren für diesen seltsamen Musikbeitrag zu einem Abend der Unvergänglichkeit.

Denn: Der 1. FC Union, ihr 1. FC Union, war in die Bundesliga aufgestiegen, nach einem 0:0 im Relegations-Rückspiel gegen den VfB Stuttgart. Diesmal wird die Bezeichnung "Neuling" tatsächlich passen. Die Köpenicker, die "Schlosserjungs", wie sie in Anlehnung an die proletarischen Wurzeln des Klubs genannt werden, die Eisernen, sie sind jetzt also erstmals dabei, als 56. Bundesligist der Geschichte. Und: Sie sind der erste traditionelle Ost-Klub, der es bis ins Oberhaus des deutschen Fußballs schafft, seit Energie Cottbus im Sommer 2009 abstieg.

So weit die Fakten. Der Rest war Emotion. Etwa als Urs Fischer, der Union-Trainer, aus einer Kabine trat, die nach Bier roch und nach Ballermann klang und VfB-Coach Nico Willig auf ihn zutrat und die Glückwünsche nachreichte, die er schon länger auf den Lippen trug, "ich habe dich im ganzen Trubel nicht mehr gesehen".

Der Trubel, ja: Mit Abpfiff hatten die Fans das Spielfeld geflutet, und es war nicht nur ein Wimmelbild in Rot und Weiß, den Vereinsfarben, sondern auch so etwas wie ein Wunder zu begutachten. Denn der Rasen war nicht mehr zu sehen vor lauter Menschen, die dort Feuerwerk zündeten, sangen, weinten, lachten, einander umarmten, und die den Union-Profis beim Stagediving assistierten wie Punkfans bei Konzerten von Iggy Pop.

Der Trainer Fischer war vielleicht der einzige unter den 22 000 Menschen An der Alten Försterei, der noch über Fußball diskutieren wollte. "Die erste Halbzeit hat mir nicht so gut gefallen. . .", sagte der Schweizer, ehe er zur Pressekonferenz geführt wurde. Da war Union von den Stuttgartern tatsächlich an die Wand gespielt worden, und die Stuttgarter hatten sogar das rettende Tor durch einen Freistoß von Dennis Aogo erzielt, das allerdings per Video-Schiedsrichter annulliert wurde. Stürmer Nicolás González hatte sich hinter die Mauer und damit ins Abseits geschlichen.

Nun muss er damit leben, dass das Verderben des VfB auf seinen 20-jährigen Schultern abgeladen wird. Als hätte es vorher keine 35 Spiele gegeben. Als ob der VfB nicht "dankbar" sein müsste, wie Trainer Willig einräumte, mit 28 Punkten überhaupt in die Relegation gekommen zu sein. Und als hätte der VfB nach der selbstredend abenteuerlichen Idee von González nicht noch 81+5 Minuten Zeit gehabt, ein weiteres Tor zu erzielen.

"Ich habe die Videoszene nicht gesehen und ich werde sie mir, glaube ich, nie im Leben anschauen", sagte Willig, den Tränen und dem Zusammenbruch nahe. Der junge Coach hatte viele wilde Bilder ertragen müssen an diesem bitteren Abend, unter anderem wie seine beiden Verteidiger Ozan Kabak und Holger Badstuber mit den Köpfen zusammenrauschten und mit massiven Kopfverbänden weiterspielten.

Sein Kollege Fischer fühlte mit. Auch wenn er später noch ein Wort des Überschwangs fand, für das er sich entschuldigte, weil ihm doch glatt herausgerutscht war, dass der Abend "einfach geil" sei. Da war er "die narkotisierte Schweizer Version des Liverpool-Trainers Jürgen Klopp", wie die Neue Zürcher Zeitung am Dienstag schrieb. Nur: Welches andere Wort hätte es getan? Es hatte ja etwas Biblisches, wie Union seine historische Nullnummer ertrotzt hatte. Frei nach Matthäus - dem Apostel, nicht dem ehemaligen Nationalspieler - hielten die Unioner nach jeder VfB-Chance die andere Wange hin, mit der Ruhe, die ihrem Trainer innewohnt.

GER, Fussball, 1. Bundesliga Relegation, 1. FC Union Berlin - VfB Stuttgart, 27.05.2019

Was macht Stuttgarts Stürmer Nicolás González (Zweiter von rechts) da eigentlich meterweit hinter der Berliner Abwehrmauer? Wegen Abseitsstellung wurde jener Treffer aberkannt, der den VfB in der Bundesliga gehalten hätte.

(Foto: Tom Weller/Eibner-Pressefoto)

Die Berliner verloren auch nicht die Contenance, als Stürmer Suleiman Abdullahi zwei Mal in zwei Minuten den Pfosten traf, die Tragik also bereit war, sich einen anderen Adressaten zu suchen als González. Union blieb im Spiel - mit einer Selbstsicherheit, die ohne die überragende Macht der Ränge nicht denkbar gewesen wäre.

Auf den Tribünen tummeln sich die Menschen, die bei Freistößen "Die Mauer muss weg!" brüllten, als Berlin noch geteilt war, als die DDR noch existierte; und die nach der Wende ihren Klub durch Schweiß und Blut retteten, weil sie gratis am Stadion mitwerkelten oder Blut spendeten, um die Prämie in die klammen Klubkassen zu transfusionieren. "Dieser Klub hat einen Geist", sagte Fischer, etwas Familiäres und Solidarisches, das nicht herauszukommerzialisieren ist, wie es scheint.

Der Abwehrspieler Marc Torrejón stand nicht im Kader, feierte aber mit seinen Kindern bis drei Uhr morgens im Stadion mit. Die Kindergärtnerinnen in Karlshorst hätten am Montagfrüh Union-Trikots getragen, die würden verstehen, wenn seine Kinder nicht auftauchen würden, erzählte Torrejón am Dienstag.

Es war der Dienstag, an dem feststand, dass Union in einer neuen Liga zurechtkommen muss. "Vielleicht machen wir ein Jahr Urlaub in der Bundesliga, das kann sein. Aber meine persönliche Ambitionen sind immer, dass wir Dinge zu Ende bringen. Das hieße für Union dann auch, noch ein weiteres Jahr da zu verweilen", sagte Manager Oliver Ruhnert, der vorigen Sommer einen personellen Umbruch einleitete, der Union in das heim- und abwehrstärkste Team der zweiten Liga verwandelte. In einen Aufsteiger, der weiter wachsen, das Stadion ausbauen, zahlreiche Steh- in Sitzplätze verwandeln wird, wenn auch nicht im ersten Bundesligajahr.

Was das mit dem Klub macht? "Es verändert sich nichts, gar nichts. Da müssten wir uns ja ändern", sagte Präsident Dirk Zingler, und es klang wie ein Versprechen.

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