Union Berlin:"So 'ne Scheiße, wir steigen auf!"

1. FC Union Berlin v 1. FC Nuernberg - Second Bundesliga

Nach dem Siegtor: Philipp Hosiner (Mitte) jubelt.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Von Sebastian Fischer, Berlin

Im Osten Berlins, wo eines der schönsten Fußballstadien des Landes hinter Baumkronen verschwindet und manche Kneipen noch Bierstübchen heißen, erzählen sich die Menschen dieser Tage eine Geschichte, die wie ein Märchen klingt. Sie hat nur ein Wort, deshalb lässt sie sich praktischerweise auch im Rauschzustand brüllen. Sie kursiert seit Montagabend und geht so: "Spitzenreiter!"

Es deutet sich nun schon seit Wochen an, dass der 1. FC Union Berlin in dieser Saison tatsächlich erstmals in die Bundesliga aufsteigen könnte. Doch seit dem 1:0-Sieg gegen den 1. FC Nürnberg am Montag ist der Verein, der für viele Fußballfans im Land eine andernorts längst verlorene Romantik verkörpert, der perfekte Außenseiter, Tabellenerster der zweiten Liga. Trainer Jens Keller sagt, was er auch schon sagte, als seine Mannschaft, die in der Rückrunde noch nicht verloren hat, Dritter und Zweiter war: "Wir werden dran arbeiten, dass wir da bleiben, wo wir sind"; dass die Berliner bis zum Saisonende Erster bleiben also. Und es sieht gerade sehr danach aus, dass ihnen das gelingen wird.

Das Spiel gegen Nürnberg war insofern beispielhaft, als es ein mehr erkämpfter als erspielter, ein erzwungener Sieg war. Oder wie Keller sagte: kein "Riesenzauber". Union spielt Fußball mit nach vorne geschobenem Unterkiefer: taktisch einfach strukturiert, schnelle Pässe in die Spitze, aggressives Pressing. Eine Interpretation, die nur mit hohem Adrenalinspiegel funktioniert, und ohne Eitelkeiten. Das ist das Werk Kellers, der sich als Trainer in diesen Wochen erstaunlich profiliert.

Der Mannschaft gefällt die Euphorie

Der Kader ist zwar voller klangvoller Namen. Doch der Berliner Redondo heißt mit Vornamen nicht Fernando wie der berühmte Argentinier, sondern Kenny Prince - und ist Ersatzspieler. Der Berliner Kroos heißt Felix und ist zwar ein begabter Passgeber, aber nur der Bruder von Toni, dem Nationalspieler. Und Berlins Stürmer heißt Poldi - aber nur, wenn man ihn wie der gebürtige Stuttgarter Keller mit schwäbischer Färbung ausspricht. Jener Sebastian "Polti" Polter, 25, ist ein Schlüsselspieler, aber nicht nur wegen seiner vier Tore seit seiner Verpflichtung für 1,6 Millionen Euro im Winter, sondern wegen seines Eifers. Gegen Nürnberg vergab er eine Großchance, rannte dafür aber umso mehr Gegner an und um. Späterer sagte Polter, der ein Wolfsgesicht auf den Handrücken tätowiert hat, er stelle sein Ego gern hintan.

Das Tor gegen Nürnberg schoss der österreichische Nationalspieler Philipp Hosiner, der seit Wochen auf einen Einsatz wartete, aber nach seiner späten Einwechslung anstandslos seinen Job erledigte, als er im Strafraum freigespielt worden war. Seine Kollegen werteten dies als nächstes Indiz für den intakten Berliner Mannschaftsgeist, Hosiner selbst beschrieb Gefühle und Stimmung nach dem Tor als "totale Ekstase". Wer nach Beweisen sucht, dass Union die erste Liga bereichern kann, der muss im Stadion an der Alten Försterei nur hinhören. So laut und schön, wie sie hier Grätschen feiern, würden in Sinsheim wohl keine Titel bejubelt werden.

Die Ironie der Ostberliner Erfolgsgeschichte ist nun, dass die ultrakommerzkritischen Union-Fans fürchten, die Erstligazugehörigkeit könnte das Wesen ihres Klubs verändern, an dessen Stadion sie einst mitbauten. Die Sorge manifestiert sich in dem, natürlich nicht ganz ernst gemeinten Gesang, den sie auch am Montag anstimmten: "So 'ne Scheiße, wir steigen auf!" Doch wie das nun mal so ist mit Märchen: Man kann sich ihrer als Romantiker schlecht erwehren. Deshalb hallte auch der Spitzenreiter-Ruf stolz durchs Stadion, durch die Straßen, die Kneipen und Züge.

Dem Team gefällt die Euphorie, gleichzeitig sorgt sie für Nervosität. Seine Spieler könnten lesen, sagte Keller, die Schlagzeilen hätten sie schon gehemmt. Die nächsten Wochen könnten "sehr hart werden", sagt Stürmer Polter. Doch die Berliner wirken bereit. Bevor er sich mit der Mannschaft auf eine Ehrenrunde begab, stampfte Jens Keller ein aufgewühltes Stück Gras zurecht und strich es glatt. Der Rasen wird noch gebraucht.

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