Union Berlin in der Bundesliga:15 Minuten Grabesstille

Bundesliga Relegation Playoff - Union Berlin v VfB Stuttgart

Ein Meer in Rot: Das Stadion „An der Alten Försterei“ an jenem Abend im Mai, an dem der Erstliga-Aufstieg von Union besiegelt wurde.

(Foto: Hannibal Hanschke/Reuters)

Von Javier Cáceres, Berlin

Ein bisschen, sagt Olaf Forner, erinnere ihn die Stimmung rund um seinen Verein an die Zeit des Mauerfalls.

Dies ist eine Gedankenbrücke, die in Berlin gerade nicht nur von Forner begangen wird: Von der Öffnung der DDR-Grenze am 9. November 1989 einerseits bis zum erstmaligen Aufstieg des 1. FC Union Berlin andererseits. Streng historisch sicher wackelig, diese Brücke, aber es stimmt ja doch, was der Union-Fan in einem Café in Berlin-Mitte meint. Denn nach jenem epochalen Tag wurde im In- und Ausland nur noch selten mit so viel Sympathie nach Berlin geschaut wie am Abend des 23. Mai 2019. An jenem Abend, an dem sich Union in der Relegation gegen den VfB Stuttgart behauptete und zum 56. Mitglied der Bundesliga-Geschichte wurde. Das Erstliga-Debüt findet am Sonntag statt, gleich das Ost-Derby, gegen RB Leipzig.

"Gefühlt hat die ganze Republik gratuliert", sagt auch Unions Manager Oliver Ruhnert. Und dass die Köpenicker so viel Zuneigung erfahren haben, liegt auch an Menschen wie Forner, der selbstredend wieder dabei sein wird gegen Leipzig.

"Die Mauer muss weg!", riefen die Fans bei Freistößen

Forner wird im Fanforum Unions "der Tazunioner" genannt, ein Wortkompositum, in dem sein Dasein gerinnt. Abends zieht er im Union-Trikot durch Berliner Kneipen und verkauft die taz und andere Zeitungen der Stadt; Unioner ist er "24/7", wie man in England sagen würde. 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Und er ist nicht nur Fan: Er koordiniert die Logistik des Verkaufs des Stadionheftes, kommandiert die dreißig bis vierzig Mann, die an Spieltagen versuchen, 3500 bis 4000 Exemplare unter die Leute zu bringen. Forner verkauft aber auch Eintrittskarten, dirigiert einen vom Klub kontrollierten Wiederverkauf nicht genutzter Karten, eine Maßnahme gegen den Schwarzmarkt.

Jeder kann sich mit ihm über Facebook verabreden, zweieinhalb Stunden vor Spielbeginn trifft man ihn dann auf den Gleisen des S-Bahnhofs Köpenick, zehn Minuten Fußweg von der Alten Försterei entfernt. Dort steht er immer. In den kommenden Wochen, ahnt Forner, dürfte die Anzahl der Tickets, die er wiederverkaufen kann, weniger werden als zu Zweitligazeiten. Denn die Vorfreude auf die Bundesliga ist zu groß, als dass jemand, der den Verein liebt, auf einen Besuch im Stadion verzichten wollte. Schon gar nicht jemand wie Forner, der "Ossi aus 'ner Westfamilie".

Geboren wurde er 1965, seine Eltern lebten im Osten, verdingten sich aber bis zum Mauerbau 1961 im Westen. In ihrem Wohnzimmer, sagt Forner, lief nie Ostfernsehen, "außer wenn Willi Schwabes Rumpelkammer kam und alte Schinken zeigte". Fußballerisch sozialisiert wurde er über die ARD-Sportschau und ihre Berichte über den Berliner Verein auf der anderen Mauerseite: Hertha BSC. Hertha war seine erste Liebe, die er bis heute nicht vergessen hat. Dass er dann doch bei Union landete, dem DDR-Pokalsieger von 1968, lag an der Aura des Dissidententums, die Union umwehte: "Da gibt es einen Verein, der nix mit dem Staat zu tun hat", hatte ihm ein Freund gesagt. "Die Mauer muss weg!", riefen die Fans bei Freistößen, eine Provokation.

Wie Union die Klasse halten will

Und sie lernten schon damals zu improvisieren, mehr als andere. Forner sagt, dass er dabei war, als die Fans zu Beginn der Achtzigerjahre auf der Waldseite des Stadions einen Wall aufschütteten, auf dem längst die Tribüne steht, die die treuesten Fans beherbergt. Später, nach der Wende, waren es wieder die Union-Fans, die sich gegen den Exitus wandten, als das Geld knapp wurde: Sie spendeten Blut, um mit den Erlösen aus dem Aderlass die klammen Kassen des Klubs zu entlasten. Oder sie verdingten sich unentgeltlich als Bauarbeiter und Handwerker, um das Stadion zu renovieren. Damals hätten Menschen aus unterschiedlichen Verhältnissen Hand in Hand gearbeitet; Menschen, die unter normalen Umständen nie miteinander zu tun gehabt hätten, sagt Forner, ließen Freundschaften entstehen, die es anders nie gegeben hätte. Und die seit Jahren bei jedem Heimspiel erneuert werden, die ein familiäres Gefühl fortleben lassen.

Und nun sind sie in der Bundesliga angekommen, und treffen auf RB Leipzig. Ausgerechnet Leipzig. Das Kommerzprodukt par excellence, ein aus dem Boden gestampftes Fußballunternehmen zum Ruhme eines milliardenschweren Limonadenherstellers aus Österreich. In den vergangenen Tagen kreisten die Debatten um den "Stimmungsboykott", den die Union-Ultras angekündigt haben, in den ersten fünfzehn Minuten der neuen Bundesliga-Zughörigkeit soll Grabesstille herrschen, sollen die Fanschals nicht in den Himmel gereckt werden. "Natürlich wollen wir eine gute Stimmung haben, aber die Fans wollen ein Zeichen setzen, und das müssen wir akzeptieren", sagte Trainer Urs Fischer, ein Schweizer, am Freitag.

Werte, sagen die Fans, sind wichtiger als Punkte. Nicht nur die Ultras des "Wuhle-syndikat", sondern vor allem jene, die in der Fan- und Mitgliederabteilung "Fuma" sind und einen Sitz im Aufsichtsrat Union besitzen. Auch die Stiftung "Schulter an Schulter" ist dabei, die Unionern mit "Handicap" den Stadionbesuch ermöglicht, seien diese nun Obdachlose oder Behinderte.

Die Ängste, dass derlei vom Sog der Kommerzialisierung usurpiert wird, nehmen die Verantwortlichen bei Union durchaus wahr. Präsident Dirk Zingler, der am Sonntag mit dem Schal antreten will, den ihm seine Oma strickte, versprach nach dem Aufstieg, dass sich nichts ändern werde: "Dann müssten wir uns ja ändern." Doch man tue niemandem einen Gefallen, wenn man sich selbst den Heiligenschein aufsetze. Oder von außen aufsetzen lasse. "Also, wir sind nicht wirklich so viel anders als andere Profivereine", sagte er dem RBB. Denn natürlich funktioniert Union nach den Gegebenheiten des Geschäfts, das der Profifußball ja auch ist. Und der dafür sorgt, dass der Klub mitten in den existenziellen Debatten über horrende Mieten in "Aroundtown" einen Immobilienunternehmer als Trikotsponsor ins Boot holte.

Geholt wurden Spieler, die mit in die zweite Liga gehen

Denn Union ist auch das: Ein Profiklub mit Bedarf an Einnahmen, jetzt erst recht. Es dürfte kaum einen Klub in Europa geben, der sich so intensiv auf dem Spielermarkt umgetan hat wie Union in diesem Sommer; im Kicker-Sonderheft sind 18 neue Spieler aufgelistet, zu den namhaftesten zählen erfahrene Bundesligaprofis wie Christian Gentner, Neven Subotic oder Anthony Ujah. "Ich habe schon bei meinem Amtsantritt 2018 gesagt: Den Kader weiterzuentwickeln, wird mindestens drei Transferperioden dauern. Jetzt sind wir in der dritten Transferperiode. Anders gesagt: Ich hätte auch am Kader gearbeitet, wären wir in der zweiten Liga geblieben", sagt Geschäftsführer Oliver Ruhnert, 46. Er holte nur Spieler, die auch wieder mit runter in die zweite Liga gehen würden, falls die erste Liga ein Intermezzo bleibt.

Denn das gehört auch zum Selbstverständnis von Union: dass es keine Garantie für eine dauerhafte Bundesligazugehörigkeit gibt. Verteidigen werden sie die schon, mit den Lebenden, mit den Toten. Das Stadion wird ausverkauft sein, klar. Doch 500 Union-Fans haben Bilder von verstorbenen Freunden und Angehörigen auf Plakate drucken lassen, die Unions Aufstieg verpasst haben, und wollen sie am Sonntag in die Höhe halten. Zwei Worte sind dort zu lesen, in weißen Buchstaben, auf rotem Grund, den Vereinsfarben. Sie lauten: "Endlich dabei".

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