Union Berlin:Fleisch auf den Knochen

1. FC Union Berlin - 1.FC Nürnberg

Fangesänge mit personalisierten Tickets: Wird nach dem 2:1 im Testspiel gegen Nürnberg einer der Union-Fans positiv auf das Coronavirus getestet, soll die Kontaktnachverfolgung gewährleistet sein.

(Foto: dpa)

Ein Testspiel vor 4500 Zuschauern gegen den 1. FC Nürnberg ist Rückeroberung und Feldversuch. Und der Klub will noch mehr - beim ersten Bundesligaspiel sollen 5000 Menschen ins Stadion dürfen.

Von Javier Cáceres

Später, als fleißige Hände sich anschickten, den Rasen wieder auf Vordermann zu bringen, stand Dirk Zingler, der Präsident des 1. FC Union Berlin, vor einer Werbebande und wirkte wahrhaft ergriffen. "Haben Sie mal in die Augen der Menschen geguckt?", fragte er, "wie die sich die Seele aus dem Leib gesungen haben, weil sie endlich wieder hier waren?" Ein "wichtiger Tag" sei das für Union gewesen, erklärte Zingler, aber eben nicht nur das. Das ganze Land habe nach Berlin-Köpenick geschaut - zu einem Spiel, das in doppelter Hinsicht ein Testspiel war.

Einerseits war es die Generalprobe Unions vor dem ersten Pflichtspiel der neuen Saison, die am kommenden Wochenende mit einem Pokalspiel beim Karlsruher SC beginnt. Und andererseits war es der Versuch, wenigstens einen Teil der Ränge mit Zuschauern zu besetzen. 187 Tage nach der letzten Partie mit Publikum im Stadion An der Alten Försterei.

Auf Kritik aus Gladbach reagiert der Union-Präsident mit Spott

Ein leeres Stadion sei wie "ein Skelett der Massen", hat einmal der (2009 verstorbene) uruguayische Schriftsteller Mario Benedetti gesagt. Beim 2:1-Sieg Unions gegen den Zweitligisten 1. FC Nürnberg durften 4 500 Zuschauer dabei sein, und das war genug Fleisch auf den Knochen, um bei einem so zurückhaltenden Menschen wie Trainer Urs Fischer "Gänsehaut" auszulösen. Schon vor Beginn der Partie. Denn als das undefinierbare Gemurmel auf den Rängen sich zu einem Chor formte, die Hände zu Applaus wurden, weil die Profis von Union sich zum Warmmachen auf den Platz begeben hatten, skandierte die Menge ihr "Eisern Union! Eisern Union!", und das kam einer Umarmung, die man lange vermisst hatte, frappierend nahe. "Unioner!", setzte wenig später der Stadionsprecher Christian Arbeit an, ehe er im Redefluss durch einen neuerlichen Chor der Fans unterbrochen wurde. "Wir haben uns so lange nicht gesehen. Schön, dass ihr hier seid, heute." Und dass "wir unser Stadion zurückhaben".

Man hatte es ja schon fast vergessen, wie sich so ein Stadion anhört. Diese "Uuuys" und "Aaahs" und "Ooooaaahs" bei Chancen, dieser Jubel über herausgeholte Eckstöße, oder auch das Lachen, das den Menschen hörbar im Halse stecken blieb, als Unions Zugang Niko Gießelmann kurz vor der Halbzeit einen Ball mit dem Fortpflanzungsapparat zur Ecke abwehrte und sich hernach auf dem Boden krümmte. Die beiden Tore von Marcus Ingvartsen (51./65., Foulelfmeter) wurden gefeiert, der Gegentreffer von Nikola Dovedan (53.) betreten beschwiegen. Aber was war das schon im Vergleich zu der Zuneigung, die dem Stürmer Akaki Gogia zuteil wurde, als er erstmals seit seinem Kreuzbandriss, also erstmals seit fast einem Jahr, wieder spielen konnte? Der Applaus, den er hörte, war Teil einer Reconquista, einer Wiedereroberung des Lebens nach Wochen aseptischer Ersatzbefriedigung, die auch skurrile Randerscheinungen zutage förderte. Zum Beispiel einen Mann, der mit Wintermütze und Fan-Kutte fürs TV über Hygieneregeln philosophierte, obwohl er arg schmutzige Füße und lange Nägel hatte, was man deshalb gut sah, weil er seine Schuhe auf den Gepäckträger seines Fahrrads geklemmt hatte.

Das war natürlich nicht im Entferntesten das, worauf der Hygienereferent des Gesundheitsamtes Treptow-Köpenick später anspielte, als er sagte, dass "der 1. FC Union die hygienerelevanten Vorgaben hervorragend umgesetzt" habe. Er sei "besonders beeindruckt von den Fans, die die notwendigen Maßnahmen annehmen und die Hygieneregeln einhalten". In Berlin sind Veranstaltungen unter freiem Himmel mit bis zu 5 000 Zuschauern erlaubt; nicht nur der Fußball versucht, das Limit auszuschöpfen. Am Wochenende trat auch der Sänger Roland Kaiser in der Waldbühne vor einer ähnlich hohen Zahl an Zuschauern auf.

Und falls in den kommenden Tagen ein Stadionbesucher positiv getestet werden sollte? "Wir haben alle Karten personalisiert, und wenn ein Herr Maier von Reihe 7, Platz 12 übermorgen positiv sein sollte, werden wir genau wissen, wer um ihn herumgestanden hat. Dann hat das Gesundheitsamt nicht 5000 Nachverfolgungen zu leisten, sondern erheblich weniger. Wir sind dem normalen Leben weit voraus. Das Risiko herrscht im Alltag, in der Familie. Hier herrscht kein Risiko", sagte Zingler.

Das ist natürlich überaus optimistisch formuliert. Aber der Klubpräsident steht weiterhin dazu, dass es wichtig sei, "positive Zeichen" und nicht nur solche der Einschränkungen zu setzen - und den Menschen zu vertrauen, dass sie sich verantwortungsbewusst verhalten. Auch den Plan, Fans vor einem Stadionbesuch auf Corona zu testen, will er weiterverfolgen, aus Erwägungen, die wohl gesellschaftsphilosophischer Natur sind. "Wir brauchen keine soziale Distanz, sondern körperliche Nähe, also gilt es daran weiter zu arbeiten", sie zu ermöglichen. Denn: "Menschen brauchen Menschen." Die von Mönchengladbachs Manager Max Eberl vorgetragene Kritik ("Ich würde mich freuen, wenn wir uns jetzt nicht ständig positionieren würden und besser dastehen wollen als andere") quittierte Zingler mit Spott: "Meistens werden wir von den Menschen kritisiert, die selber nix tun, außer Pappkameraden aufstellen. Das ist mir ein bisschen zu wenig."

Im ersten Bundesligaspiel der neuen Saison gegen Augsburg wolle man wieder 5 000 Menschen ins Stadion lassen, sagte Zingler. Die Deutsche Fußball-Liga DFL verbietet es bislang, Stehplatztribünen zu öffnen, Union erwägt, Sitzschalen zu montieren, als Ultima Ratio. Denn: "Wir werden unsere Stehplätze nicht kampflos hergeben", sagte Zingler.

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