Union Berlin:Der Mann, der weiß, wie man die Bälle fängt

Lesezeit: 4 Min.

Immer noch irgendwie die Handschuhe am Ball: Union-Torwart Andreas Luthe hält das 0:0 gegen den FC Augsburg fest. (Foto: Matthias Koch/imago)

Andreas Luthe ist beim 1. FC Union im fortgeschrittenen Alter zum Bundesliga-Stammtorwart gereift - und steht sinnbildlich für die Weiterentwicklung des Teams von Urs Fischer.

Von Javier Cáceres, Berlin

Die Partie gegen den FC Augsburg war beendet, und die Spieler des 1. FC Union folgten im Stadion An der Alten Försterei der üblichen Liturgie. Sie sammelten sich in der Mitte des Rasens und traten dann ihren Marsch rund ums Feld an, um den 10 207 Zuschauern zu danken - so wie sie es nach jedem Heimspiel tun. Von den Rängen kam Applaus, vor allem aber ein wiederkehrender Chor, den man in dieser Form noch nicht gehört hatte - "Luthe, Luthe, Luthe ..." -, und der einem Mann in textmarkergelber Uniform galt: Torwart Andreas Luthe. Denn der hatte in den vorangegangenen 90 Minuten unter anderem mit gleich drei herausragenden Paraden entscheidend dazu beigetragen, dass sich Union nach vier Bundesliga- und sieben Pflichtspielen weiter ungeschlagen nennen kann. Das Spiel gegen Augsburg war 0:0 ausgegangen.

Luthe war im Sommer 2020 aus Augsburg nach Köpenick gekommen, als weitgehend unbeschriebenes Blatt - obwohl er schon 33 war. Für Union kam er seither auf 35 Bundesligaspiele, zuvor waren es für Bochum und den FCA nur 32 Erstligapartien gewesen, insgesamt. Luthe hat nicht immer so brilliert wie am Samstag - es war oft auch nicht nötig, die defensive Struktur Unions ist grundsolide. Aber er steht eben auch sinnbildlich für die spielerische Weiterentwicklung, die den Klub bis nach Europa gespült hat. Am Donnerstag steht in der Conference League die Reise zu Slavia Prag an (18.45 Uhr) - zu einer Mannschaft also, die Trainer Urs Fischer "eigentlich in der Gruppenphase der Champions League erwartet hätte". Und der Union nun mit dem Gefühl relativer Unverwundbarkeit gegenübertreten kann.

Auch dank Luthe: Vor allem bei einem Schuss von Augsburgs Amaral Iago, der den Ball eigentlich schon im Winkel platziert hatte, wirkte es, als trage Luthe ein Superhelden-Cape auf dem Rücken. Augsburgs Keeper Rafal Gikiewicz, kurioserweise Vorgänger von Luthe im Union-Tor, bewältigte bei seiner Rückkehr nach Köpenick übrigens auch größere Herausforderungen - vor allem in der 75. Minute, als er erst einen Schuss von Taiwo Awoniyi entschärfte und dann auch noch den Nachschuss von Andreas Voglsammer abwehrte. "Vielleicht war es ausschlaggebend, dass beide Torhüter den Gegner gekannt haben", sagte Augsburgs Trainer Markus Weinzierl nach der Torwartshow von Köpenick.

Wiedersehen in Köpenick: Augsburg-Torwart Rafal Gikiewicz stand einst bei Union Berlin zwischen dem Pfosten, nach dem Spiel lässt er sich vom Union-Maskottchen Keule umarmen. (Foto: Matthias Koch/imago)

Am Ende hätten "ein paar Kleinigkeiten" zum Sieg gefehlt, ärgerte sich Luthe hinterher, er hätte auch sagen können: ein paar Zentimeter. Gleich drei Mal trafen die Unioner den Pfosten - durch Niko Gießelmann (11.), durch Innenverteidiger Marvin Friedrich, der den Ball per Kopf an die Querlatte jagte (60.), schließlich durch Voglsammer, der den Außenpfosten traf (65.). Die Blicke zog aber Luthe auf sich, und auch die Fragen kreisten nach der Partie um ihn. Was ihn auszeichne, wurde beispielsweise Unions Trainer Urs Fischer gefragt. "Seine Gelassenheit, dass er ein ruhender Pol ist, die Jungs in seiner besonnenen Art gut coacht", sagte der Schweizer, ehe er in seiner unnachahmlichen Art auf einen Faktor zu sprechen kam, der platt klingt, aber eben doch ein wichtiges Einstellungskriterium war: "Dass er weiß, wie man Bälle fängt."

Dass der Blick von Unions Manager Oliver Ruhnert auf Luthe fiel, hatte viel mit Torwarttrainer Michael Gspurning zu tun. Nach dem Abschied von Gikiewicz suchte Union "einen Torhüter, der salopp gesagt - Stichwort: Abstiegskampf - Bälle hält, uns in der Raumverteidigung unterstützt", wie Gspurning sagt, aber der eben auch die Reform der Spielphilosophie begleiten sollte.

"Es war der Wunsch da, unser Spiel, das vermehrt auf lange Bälle ausgerichtet war, einen Tick variabler zu machen, mit Kurzpassspiel. Das ist uns mit Andi gelungen", sagt Gspurning. Luthe habe ein gutes Kurzpassspiel, man müsse ihn regelrecht anhalten, auch mal den Ball nach vorn zu dreschen. Dass Luthe tatsächlich Nummer eins werden könnte, hielten die Unioner für möglich, aber nicht für garantiert. Nicht wegen Zweifeln an seiner grundsätzlichen Eignung, sondern aus Gründen der Empirie: "Du hast bei Andi keinen Referenzwert gehabt", sagt Gspurning.

Am Ende kam sogar Loris Karius vom FC Liverpool in Berlin nicht an Andreas Luthe vorbei

Luthe war bis zu seiner Einstellung bei Union nie eine konsolidierte Nummer eins eines Bundesligateams gewesen, auch nicht beim FCA, wo er in der Saison 2019/20 auf zehn Spiele gekommen war. Immer wieder setzten sie ihm eine andere Nummer eins vor die Nase, aber siehe: Er kam doch immer wieder zum Einsatz. Gspurning interpretierte das als ein Symptom der "Grundsolidität", die Union auf dem Torwartposten brauchte. Zur Sicherheit lieh sich Union dennoch vorübergehend Loris Karius vom FC Liverpool aus - einen Torwart, der es vor Jahren in Mainz zu großem Renommee gebracht hatte, auch wenn er heute dem breiten Publikum vor allem wegen der tragischen Blackouts beim Champions-League-Finale des FC Liverpool gegen Real Madrid von 2018 in Erinnerung geblieben ist. Sergio Ramos hatte ihn zuvor mit einem Ellenbogenschlag an die Schläfe nachgerade ausgeknockt. Bei Union kam Karius dann an Luthe nicht vorbei.

Das lag auch daran, dass Luthe sich trotz eines vergleichbaren hohen Alters als wissbegierig entpuppt und "einen Schritt nach vorne gemacht hat", wie Gspurning erklärt. Das Torwartspiel sei im Grunde in drei Aspekte unterteilt: ins Offensivspiel, wo der Keeper den Ball am Fuß hat und an der Spieleröffnung teilnimmt; in die Raumverteidigung, wo es darum geht, Flanken, Querpässe oder Bälle in die Tiefe abzufangen; und in die "Zielverteidigung", bei der es darum geht, "alles zu halten, was auf die Hütte kommt", wie Gspurning formuliert. Im Training sei es in Luthes Fall vor allem "um ein optimales Stellungsspiel bei Schüssen und Flanken" gegangen. Doch am Samstag zeigte Andreas Luthe in erster Linie dies: dass er ein Mann ist, der weiß, wie man Bälle fängt.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: