Und dann, als der 1. FC Union Berlin den TSV 1860 München mit 2:0 besiegt hatte, fiel Wasser vom Himmel, und es wirkte, als könne es sich nicht entscheiden, ob es lieber Regen sein wollte oder Schnee. Kleine Flocken waren es, die sich auf das Dach des Stadions An der Alten Försterei sowie auf die Häupter der Spieler legten. Die reckten ihre Arme hoch wie die knapp 20 000 Zuschauer, die dem östlichsten Klub der deutschen Hauptstadt in Sympathie zugeneigt sind. Es war ein Sieg, der Unions Status als Erstliga-Aspirant untermauerte. Doch diesbezügliches Gejohle, Aufstiegs-Rufe oder Ähnliches war nicht zu vernehmen von den Rängen, stattdessen nur aufrichtige Freude über einen überzeugenden Triumph.
"Ich bin unglaublich stolz": Das waren so ziemlich die ersten Worte, die Unions Trainer Jens Keller nach der Partie sagte, und er meinte nicht nur die Art und Weise, wie das Spiel gewonnen wurde. Sondern auch "die Art und Weise, wie die Jungs hier mit der ganzen Situation umgehen".
Die ganze Situation, das ist die Euphorie, die sich langsam in die Knochen der Union-Sympathisanten frisst, wie es in Berlin sonst nur die Winterkälte tut. Nie stand der 1. FC Union, seit 2009 ununterbrochen in der zweiten Liga, zu einem vergleichbaren Zeitpunkt besser da als jetzt. Nach 22 Spieltagen werden die Köpenicker auf Platz drei geführt, sechs Punkte hinter dem Tabellenführer VfB Stuttgart und nur einen hinter Hannover 96.
Das Ziel: dauerhaft zu den besten 20 Klubs Deutschlands zählen
"Klar schauen wir auf die Tabelle", sagt Keller, "wir wären wahnsinnig, wenn wir es nicht machen würden." Denn vielleicht wird es lange dauern, ehe sich wieder derart gute Gelegenheit ergibt, fundierte Aufstiegsträume zu hegen. Womöglich kann man das Spiel gegen 1860 München als Indiz dafür hernehmen: Die Löwen waren vor der Partie das drittbeste Rückrundenteam - und den Unionern dann im Spiel in jeder Hinsicht unterlegen.
Zumindest wirkt es so, als befinde sich Union in einer psychologisch komfortablen Situation. Klub, Mannschaft und Fans träumen davon, aber fühlen sich nicht dazu gezwungen, aufzusteigen. Sie sind wie der Niederschlag, der sich in jedem denkbaren Aggregatzustand wohlfühlt. Allenfalls wähnt sich Union auf der Zielgeraden eines vor Jahren gezeichneten Weges. Union möchte dauerhaft zu den besten 20 Klubs Deutschlands zählen; das heißt zunächst, sich im oberen Tabellendrittel der zweiten Liga zu etablieren.
Sollte ein Aufstieg in die Bundesliga dabei herausspringen, wäre das eine willkommene Abwechslung; sollte man nach einem etwaigen Aufstieg wieder absteigen, wäre das weder emotional noch wirtschaftlich ein Drama. Die Finanzen des Klubs gelten als stabil. Wahrscheinlich hatte nicht mal die einstige Fahrstuhlmannschaft par excellence, der VfL Bochum, ein derart entspanntes Verhältnis zum Aufenthalt am Saum der Bundesliga. Aktuell dürfte höchstens der SC Freiburg so selbstsicher zwischen den Welten wandern wollen und können wie die Berliner.
Was dies bewirkt, konnte man beim Sieg Unions gegen die Löwen gut beobachten: auf dem Feld. Die Münchner spielten so aufgekratzt, wie ihr Klub zur Zeit nach außen wirkt. Union setzte dem Intensität entgegen, aber auch Momente der Ruhe, Übersicht, Technik, Strategie und Nachhaltigkeit. Unter anderem bei den Treffern: Nachdem der Ball wie eine Flipper-Kugel durch den Sechziger-Strafraum gesprungen war, setzte ihn Steven Skrzybski (41. Minute) mit dem Innenrist aus 14 Metern ins Netz - wohlüberlegt.
Das 2:0 entsprang einem der besten der vielen durchdachten Spielzüge, den Sebastian Polter mit einem Querpass auf Simon Hedlund vollendete (61.). Polter stand damit wieder stellvertretend für die geschickte Transferpolitik. Er war im Winter nach anderthalb Jahren bei Queens Park Rangers (England) nach Köpenick zurückgekehrt, für eine vereinsinterne Rekordablösesumme von angeblich 1,6 Millionen Euro.
Die Entwicklung liegt auch an Trainer Keller. Er hat dem Team seit seinem Amtsantritt im Sommer 2016 eine Spielidee vermittelt und vor allem "die Angst vor dem Erfolg" genommen, wie es ein Aufsichtsrat formulierte. Er hat in Köpenick nicht nur eine bemerkenswerte Infrastruktur vorgefunden - ein umsichtig modernisiertes und heimeiliges Fußballstadion, ein imposantes Nachwuchsleistungszentrum -, sondern vor allem die Ruhe, die er während seiner Zeit beim FC Schalke 04 (2012 bis 2014) so sehr vermisst hat.
Kakofonie im Umfeld? Fehlanzeige. Präsident Zingler, seit gut einem Jahrzehnt an der Macht, nimmt sich (mittlerweile) öffentlich ebenso zurück wie der fast schon überdiskrete Manager Helmut Schulte. All das erlaubte Union, eine Fahrt aufzunehmen, die womöglich in Liga eins endet und Berlin den zweiten Bundesligisten nach der Hertha beschert. Noch stehen zwölf Spiele aus. Aber Keller sieht keinen Grund, übervorsichtig zu sein: "Wenn ein Express fährt und schnell sein soll, darf man nicht auf die Bremse drücken."