Süddeutsche Zeitung

Union Berlin:Die hohe Kunst, ein ereignisarmes Spiel zu gewinnen

Wie Union Berlin mit einer Verbindung von demonstrativer Demut, selektiver Angriffslust, Disziplin und Arbeit zu einer Spitzenmannschaft geworden ist.

Von Jens Schneider, Berlin

Als Kevin Behrens nach Berlin kam, verzeichnete die Statistik für den Stürmer null Bundesligatore. Als aufstrebendes Talent konnte der gebürtige Bremer auch nicht gelten bei seinem Wechsel vom Zweitligisten Sandhausen im Sommer vor zwei Jahren, dafür war er zu alt. Seine Profikarriere hatte sich überhaupt erst spät über Stationen in unteren Ligen entwickelt. Inzwischen ist Behrens 32, in Kategorien des Profifußballs nahe am Rentenalter. Am Samstag gaben der Spieler und Union Berlin bekannt, dass sie den gemeinsamen Vertrag verlängert haben. Es war der Tag, an dem die Köpenicker mit einem mühsamen 2:1 über Mainz 05 auf den ersten Platz der Tabelle sprangen, zumindest bis zum Spiel der Bayern am Sonntag. Und ein Blick auf Kevin Behrens kann helfen, das zu verstehen.

Wobei es auch andere Namen sein könnten, von Spielern, die nur in Expertenkreisen bekannt waren, bevor sie nach Berlin kamen, wo sie ideal in die Mannschaft passten. Kevin Behrens dürfte auch jetzt nicht auf der Wunschliste von Barcelona oder Real Madrid stehen. Seine Bilanz berechtigt nicht zu Hoffnungen auf die Torjäger-Kanone. Vier Buden hat er in dieser Saison erzielt, in der Statistik ist das Platz 36. Aber es war Behrens, der am Samstag in der 32. Minute vor dem Mainzer Tor in einem Gewusel von vier Spielern, halb schon liegend, mit der Fußspitze den Ball zur Berliner Führung über die Linie drückte.

Es war ein Tor, wie es typisch ist für die Berliner, deren Spielweise sich nicht für Eleganz interessiert. Geradezu gelassen kontrollierten sie in den ersten Minuten gegen Mainz den Ball, als hätten sie alle Zeit der Bundesliga-Welt, um vielleicht ein Tor zu erzielen, wenn der Gegner mal eine Lücke offenbaren sollte. Die Abwehr schob den Ball hin und her, nach dem Prinzip "Abwarten und kommen lassen". Aber dabei immer darauf aus, von Seelenruhe auf höchste Geschwindigkeit zu wechseln und nach vorn auszubrechen - das ist das Prinzip Union.

Fast eingeschlafen war das Match vor lauter anstrengenden Zweikämpfen im Mittelfeld, als die Berliner Mannschaft plötzlich mit einem Pass die Mainzer Abwehr aufgerissen hatte und Paul Seguin von rechts scharf in die Mitte passen konnte. War das Tor schön? Nein. Aber ein mit Entschlossenheit erzwungener Treffer, klug herausgespielt. Erneut hatte Union die hohe Kunst vorgeführt, in einem ereignisarmen Spiel vorn zu liegen.

Und Behrens zeigte, dass er ein Mann für die wichtigen Tore ist, wie es vom Verein zur Vertragsverlängerung hieß - einer, der Führungstreffer oder Siegtore in den letzten Minuten erzielt, weil er den Gegner unermüdlich unter Druck setzt, zu Fehlern zwingt oder kleinste Lücken in dessen Abwehr nutzt. Er ragt damit nicht aus seiner Mannschaft heraus, sondern ist Teil der von Trainer Urs Fischer fein abgestimmten Maschine, zu deren Konzept inzwischen gehört, dass nicht elf, sondern dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Spieler so stark sind, dass der Schweizer jederzeit rotieren kann.

Union-Fußball ist kraftraubend, aber er bringt Erfolg

Ihr Spiel ist kraftraubend, ihr Erfolg nicht selbstverständlich. Am Samstag schien der Sieg kurz vor Schluss schon verloren zu sein, als die Mainzer einen typischen VAR-Elfmeter zugesprochen bekamen. Der Ball war dem Berliner Seguin an den Arm geschossen worden. Der VAR meldete sich, viele hatten es nicht gesehen. Schiedsrichter Florian Badstübner gab Strafstoß, obwohl niemand über ein absichtliches Handspiel klagen konnte. Marcus Ingvartsen war's egal, er verwandelte kühl. Nun setzte Union wieder nach, attackierte weiter vorn und ging in der 84. Minute durch Jordan Siebatcheu wieder in Führung. Ihn hatte der Berliner Coach ebenso gerade eingewechselt wie Morten Thorsby und Niko Gießelmann, die den Treffer vorbereiteten.

Wenn dieser Erfolg Zufall wäre, würde er sich dann ständig wiederholen? Nach Gründen gefragt, formulierte Fischer nach Spielschluss in nüchternem Tonfall eine Liebeserklärung an seine Mannschaft. Sie habe "Lust, an jedem Spieltag ans Limit zu gehen", sagte er. "Sie wendet auf, unermüdlich." Das spreche für ihre Moral. "Das Spielglück bekommst du nicht geschenkt." Es ist freilich sein Konzept, das sie mit großer Disziplin umsetzt - und dazu gehört, nie wie ein Favorit aufzutreten, der es sich leicht machen könnte, auch nicht gegen eine Mannschaft wie Mainz, von weiter unten aus der Tabelle.

Das Köpenicker Rezept liegt in dieser Verbindung von demonstrativer Demut und äußerst selbstbewusster Angriffslust, sobald sich denn die Gelegenheit bietet. Leicht sieht das nie aus, schön selten - und ist doch ganz nach dem Geschmack der Köpenicker Zuschauer. Als die Mainzer noch einmal auf den Ausgleich drängten in der Nachspielzeit, sangen sie "Unsere Liebe, unsere Mannschaft, unser Stolz, unser Verein, Union Berlin", immer lauter, als wollten sie mit ihren Chören den Schlusspfiff vom Schiedsrichter erzwingen. Danach feierten sie die Tabellenführung, wie einen guten Witz, der für den Augenblick amüsant ist. In einer Woche geht es zu RB Leipzig. Union wird wieder nicht die Favoritenrolle innehaben. Geht ja bestens ohne.

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