DFB-Gegner Ungarn:"In jeder Hinsicht ein 'Match'"

Nach einem halben Jahr Anlaufzeit startet Ungarns Führungsspieler Andras Schäfer beim Bundesliga-Tabellenführer Union Berlin durch. Er steht exemplarisch für das Beuteschema der Köpenicker - und für den zarten Aufstieg der ungarischen Elf.

Von Javier Cáceres, Berlin

Am 23. Juni 2021 schaute Oliver Ruhnert, der Manager von Union Berlin, das EM-Vorrundenspiel zwischen Deutschland und Ungarn, und er war über das, was in der 68. Minute passierte, mäßig amüsiert. Andras Schäfer erzielte ein Tor - zum zwischenzeitlichen 2:1 für die Ungarn. "Das hat mir gar nicht gefallen", sagt Ruhnert - wobei das nur in zweiter Linie mit dem Spielergebnis zu tun hatte. In erster Linie beschlich ihn eine Furcht. Ruhnert, 50, wollte Schäfer, damals beim slowakischen Erstligisten Dunajska Streda aktiv, nach Berlin holen. Und die Furcht des Union-Machers bestand darin, "dass jetzt ganz viele Klubs auf ihn aufmerksam werden" könnten.

Heute erzählt Ruhnert die Begebenheit amüsiert. Denn der Schaden hielt sich in Grenzen. Ungarn kassierte in München noch das 2:2 und schied bei der EM aus; Schäfer wiederum wechselte im Januar 2022 für angeblich 1,5 Millionen Euro zum 1. FC Union Berlin. An diesem Freitag nun spielt Schäfer in Leipzig mit Ungarn erneut gegen Deutschland, diesmal in der Nations League - und er darf inzwischen von sich behaupten, zu den etablierten Kräften des amtierenden Tabellenführers der Bundesliga zu zählen.

Schäfer, 23, hat seine Anlaufzeit gebraucht. In der Rückrunde der vergangenen Saison machte er in der Bundesliga noch kein einziges Spiel über die volle Distanz für Union - erst am 31. Spieltag, beim 2:1-Sieg in Leipzig, wurde er von Trainer Urs Fischer für eine Startelf berücksichtigt. In jenen Tagen habe ihm Schäfer besonders imponiert, erzählt Sportchef Ruhnert. Schäfer war Nationalspieler, er spielte nicht - dennoch, sagt Ruhnert, sei er im Training immer vorne mit dabei gewesen: "wissbegierig, ehrgeizig, geduldig".

Das Ergebnis: In der neuen Saison hat Schäfer seine Einsatzzeiten bei Union multipliziert. An bislang sieben Spieltagen stand er 372 Minuten auf dem Platz - 150 Minuten mehr als in der gesamten Rückrunde. Bei vier der vergangenen fünf Partien war er von Beginn an dabei, unter anderem bei den Achtungserfolgen der Köpenicker gegen Leipzig (2:1) und den FC Bayern (1:1).

Unions Manager Ruhnert wollte einen anderen Spieler beobachten - dann war er von Schäfer hypnotisiert

Ruhnert hatte Schäfer schon Mitte 2021 nach Berlin holen wollen, aber eine Einigung mit Dunajska Streda kam damals nicht zustande. "Wir sind hartnäckig geblieben, weil wir Andras unbedingt wollten. Unbedingt!", betont der Manager, "für mich war klar: Er ist einfach in jeder Hinsicht ein 'Match'."

Dass Schäfer auf Unions Radar auftauchte, war ein wenig dem Zufall geschuldet. Ruhnert wollte eigentlich einen anderen Spieler in der Slowakei beobachten, dann aber hypnotisierte ihn Schäfer: "Ich dachte: Puh! Der hat ja alles!" Was der Manager sah? Einen jungen Spieler, der "positiv ist, unter Druck gut spielt, immer vollen Einsatz zeigt, immer fokussiert und taktisch variabel ist. Er ist im Grunde der Prototyp des Spielers, den ich mag", sagt Ruhnert. Mithin ist Schäfer der Prototyp Spieler, mit dem Union immer wieder überrascht: mehr oder minder unbekannt - und entwicklungsfähig.

Auch Bernd Storck, 58, der von 2015 bis 2017 ungarischer Nationaltrainer war, ist voll des Lobes für Schäfer, den er bei Dunajska Streda betreute - nach einem völlig missratenen Ausflug des Spielers in die italienische Liga. Die Berater hatten Schäfer eingesungen, dass er in der Serie A durchstarten könne, von Januar 2019 bis Januar 2020 standen am Ende null Einsätze für Chievo Verona und den CFC Genua zu Buche. Aber Schäfer erwies sich als ungebeugt, als er in die Slowakei kam. "Andras ist ein Mentalitätsspieler", sagt Storck, inzwischen Trainer beim belgischen Erstligisten KAS Eupen. "Der krempelt die Ärmel hoch. Auf den ist Verlass", sagt Storck. Und: "Er ist einer, der in der Kabine den Mund aufmacht. Er hat Persönlichkeit."

Schäfer wuchs in Szombathely auf - 500 Meter vor der Haustür von Hertha-Legende Gabor Kiraly

Kurios mutet an, dass Schäfer in Berlin trotz seiner Vita bei Union und nicht bei der Hertha landete. Schäfer wurde in der ungarischen Stadt Szombathely geboren - wie Gabor Kiraly, der Kult-Torwart von Hertha BSC. Kiraly hätte den Mittelfeldspieler schon lieber in Blau-Weiß gesehen als im Rot-Weiß von Union, verriet Schäfer neulich dem Berliner Tagesspiegel. Man darf davon ausgehen, dass Kiraly der Hertha geraten hatte, sich den Jungen aus seiner Heimat doch mal anzusehen, Schäfer wuchs nur 500 Meter entfernt von der Haustür Kiralys auf.

Mittlerweile zählt Schäfer langsam zu den Figuren, die im Berliner Westend den Neid auf den Ost-Rivalen Union wachsen lassen. Er besticht auch durch seine taktische Variabilität, die Ruhnert und Storck ausdrücklich loben. In Ungarns Nationalelf spielt Schäfer mit dem aktuell verletzten Freiburger Roland Sallai im defensiven Mittelfeld auf der Doppelsechs. Bei Union kommt er meist offensiver auf der Achterposition zum Zug.

Schäfer war als 15-Jähriger zu MTK Budapest gewechselt, einem legendären Klub Ungarns, der seine glorreichste Zeit in den 1950er-Jahren erlebt hatte. Seinerzeit brachte MTK Spieler wie Nandor Hidegkuti, Jozsef Zakarias oder Mihaly Lantos hervor, die im WM-Endspiel von Bern 1954 tragisch gegen Deutschland verloren (2:3) - aber ein Jahr zuvor einen unvergänglichen 6:3-Sieg in Wembley erzielt hatten, angeführt von Ferenc Puskas, Zoltan Czibor und Sandor Kocsis.

Seit Beginn dieses Jahrhunderts hat sich MTK Budapest nach Jahren des Schattendaseins wieder auf die Ausbildung konzentriert, in den vergangenen Jahren befeuert durch ein Förderprogramm des ungarischen Verbandes, der Prämien an Klubs zahlte, die Nachwuchsspieler in ihre Profimannschaften warfen. Mittlerweile scheint das Programm Früchte abzuwerfen.

Im Juni holte Ungarn unter dem italienischen Trainer Marco Rossi ein 1:1-Unentschieden gegen Deutschland - und gleich zwei Siege gegen England: Mitte Juni siegten die Ungarn erst in Southampton (4:0), dann in Budapest (1:0) gegen die Mannschaft von Gareth Southgate. Damit führt der krasse Außenseiter die Tabelle der Nations-League-Gruppe A3 sogar an - vor allen Favoriten: der DFB-Elf, Italien und England. Die Absolventen der MTK-Akademie, benannt nach einer anderen Klublegende (Karoly Sandor), waren bei den jüngsten Erfolgen prominent vertreten: Torwart Peter Gulacsi und Offensivkraft Dominik Szoboszlai von RB Leipzig - und eben Andras Schäfer.

In Ungarns Kader stand aber auch der junge Linksaußen Zalan Vancsa, 17, der bereits von Manchester City gekauft und vorerst nach Belgien zum SK Lommel verliehen wurde, auf dass er Spielpraxis sammele. Von Vancsa erzählen sie sich in Ungarn wahre Wunderdinge.

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