Süddeutsche Zeitung

Ultras in der Bundesliga:Suche nach der roten Trennlinie

Im Stadion sorgen die "Ultra"-Fans für Stimmung - aber immer häufiger auch für Gewalt. Nach den jüngsten Grenzüberschreitungen stellt sich die Frage: Findet in den Kurven eine Radikalisierung statt?

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

"Akute Lebensgefahr!" Rainer Wendt, der Bundesvorsitzende der zweitgrößten Gewerkschaft der deutschen Polizisten, hatte, wie fast immer, die besten Hardliner-Statements zum Thema parat. "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir den ersten Toten haben", kommentierte Wendt die Zusammenstöße von Polizei und Ultra-Fans nach dem Bundesligaspiel des VfB Stuttgart gegen Hertha BSC vor einer Woche. Zwölf Polizisten wurden verletzt. Ein Beamter hatte dreimal mit scharfer Munition in die Luft gefeuert, weil er sich gegen die Schlägertruppe nicht mehr anders zu helfen wusste.

Nun gilt der Talkshow-Dauergast Wendt zwar fast allen im Fußball-Milieu, vom Präsidenten bis zum Hooligan, als verbaler Hyperventilierer, der für einen knackigen Spruch gerne mal den Rechtsstaat links liegen lässt. Doch die Empörungswelle, auf der auch Wendt surft, nimmt gerade wieder Tsunami-Höhen an. Der Fußball diskutiert über seine zugleich leidenschaftlichsten und umstrittensten Fans: die Ultras. In Stuttgart reichte es für rund 80 Vermummte als Motiv für Krawall, dass die Fans des ungeliebten badischen Rivalen Karlsruher SC mit jenen von Hertha BSC Berlin eine Fanfreundschaft pflegen.

In Köln dürfen jetzt, so entschied es dieser Tage der Deutsche Fußball-Bund, komplette Fanblocks mehrere Spiele lang nicht besetzt werden, weil gut zwanzig FC-Ultras beim Auswärtsspiel in Mönchengladbach den Platz stürmten, alle in weißen Overalls.

Als der vom ungeliebten Red-Bull- Milliardär Dietrich Mateschitz gesponserte Zweitligist RB Leipzig jüngst zum Auswärtsspiel in Karlsruhe weilte, wurde das Leipziger Teamhotel von KSC-Ultras besucht. Eine Machtdemonstration. Und in Dortmund und Dresden wurde der Fußball-Kommentator Marcel Reif angepöbelt und bedroht. Reif, dessen Vater mit knapper Not dem KZ entging und der nach dem Krieg aus dem damals anti-semitischen Polen emigrieren musste, will sich nicht einschüchtern lassen und kommt an diesem Samstag für den Sender Sky gleich wieder nach Dortmund, um vom Spiel gegen den 1. FC Köln zu berichten.

Hat die Eskalation der Gewalt eine neue Stufe erreicht? Sind manche der sogenannten Ultras, die sich gern zur Elite unter den Fußball-Fans erklären, endgültig durchgeknallt? Eskaliert womöglich gerade der Machtkampf zwischen den Ultras, den unbestrittenen Stimmungskanonen in den Stadien, und den offiziellen Vereins-Bossen sowie dem Liga-Verband DFL? Und: Welcher Fußball-Anhänger ist eigentlich "ultra" - und welcher nicht? Wer bestimmt das eigentlich? SPD-Innenminister Boris Pistorius aus Niedersachsen, der 2013 den Antrag der Länder auf ein Verbot der NPD mit angeschoben hat, hält Hysterie angesichts der aktuellen Vorfälle für falsch.

"Es gibt bei einigen Ultras eine niedrigere Hemmschwelle zu stärkerer Gewalt", sagt er. "Das mag sein. Aber ich sehe keine Gewaltwelle, die zunimmt. Selbst das, was in Stuttgart passiert ist, halte ich für Einzelfälle." Pistorius, jahrelang Oberbürgermeister am Fußball-Standort Osnabrück und einst Amateur-Kicker, will aber, dass die Trennlinie zur Gewalt, die im Ultra-Milieu oft nur schwer zu vermitteln ist, von allen anderen Beteiligten noch klarer definiert wird. Staatsanwälte und Polizei könnten schärfer und ganz individuell gegen die tatsächlichen Täter vorgehen, heißt es in vielen Vereinen. Sie würden es aber oft genug verweigern.

Die Sicherheits-Leute wiederum finden, der Fußball selbst tue zu wenig. "Die Verbände schweigen vielsagend" - so klingt das bei Rainer Wendt. Es ist tatsächlich interessant, wie vermint das Gelände rund um das Phänomen "Ultras" für viele zu sein scheint, die sich mit der Szene von innen beschäftigen. Manche reden zwar darüber, wollen aber nicht namentlich genannt werden, weil sie sonst ihre Gesprächschance mit den Fangruppen gefährdet sehen. Man will es sich nicht mit den Ultras verscherzen.

Man braucht sie, und man fürchtet sie. Erste Frage: Warum wird man Ultra-Fan? Weil man für Fußball und für seinen Verein brennt - und weil sich darum ein Lebensinhalt spinnen lässt. Die Gruppen geben jungen Leuten, vor allem jungen Männern, ein Gefühl von Gemeinschaft, Anerkennung, Verantwortung. Hinzu kommt oft eine Romantisierung des Fußballs, eine Überidentifizierung mit dem Verein und seiner Tradition. "Da ist auch eine diffuse Kommerz-Ablehnung dabei", sagt ein Fanbetreuer eines Bundesligisten, aber solche rationalen Argumente spielen meist nur eine Nebenrolle.

"Die Ultras definieren sich immer elitär", sagt Borussia Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke, "das gehört zu ihrem Selbstverständnis. Leider gibt es aber inzwischen auch viele, die Demokratie verachten und die so etwas wie Meinungsbildung als Meinungsschwäche betrachten."

Den Zugang zu den größeren, etablierten Ultra-Gruppen muss man sich als junger Fan verdienen, es gibt kein Formular, mit dem man einfach beitritt. Von den 80 000 Zuschauern in Dortmund dürften vielleicht 700 zu einer Ultra-Gruppe gehören. Anderswo sind es noch weniger. Allerdings bilden Ultras meist das Epizentrum der Stadion-Stimmung, mit Anfeuerungschören, Choreografien. Sie erzeugen beim BVB die spezielle Atmosphäre der Südtribüne, die weltweit bekannt ist.

In Dortmund müssen sich die Jüngeren erst mal "beweisen": bei den Spielen der zweiten Mannschaft, die in der dritten Liga spielt. Wer sich da als nützlich und verlässlich erweist, wird irgendwann ernst genommen und darf richtig mitmachen. Fragt sich nur, was "mitmachen" heißt? Eigentlich geht es, wie bei den meisten Jugendkulturen, vor allem ums "Dabeisein", ums "Dazugehören" in einer Art Wagenburg, aus der heraus alle "da draußen" verdächtig sind, Gegner oder gar Feind.

Selbstverständnis der Kurven

"Viele Ultras sehen sich als Elite - aber verachten gleichzeitig die Demokratie."

In Dortmund war die erste und größte Ultra-Gruppe "The Unity" 2004 mit Protestmärschen maßgeblich daran beteiligt, den desaströsen BVB-Vorstand unter Gerd Niebaum und Michael Meier zu kippen oder zumindest zu entwurzeln. Heute organisiert der ehemalige Unity-Anführer Daniel Lörcher (im Binnenjargon "Capo" genannt) als "Fanbetreuer" des BVB unter anderem Aufklärungstouren mit vor allem jungen BVB-Fans zu KZ-Gedenkstätten wie Auschwitz, Sachsenhausen oder Dachau. "Wir haben da einen ungeheuren Andrang", sagt Lörcher, "und es ist unglaublich, was für einen Eindruck diese Reisen bei den Teilnehmern machen." Auch Watzke und Innenminister Pistorius glauben, dass der Großteil der Ultras sich gegen rechte Unterwanderung stellt.

Sogar die DFL räumt inzwischen ein, dass viele Entwicklungen im deutschen Profifußball besser gelaufen sind als in anderen Ländern - und dass viele anfangs als romantisch abgelehnte Forderungen der Ultras dazu beigetragen haben. Ein bisschen erinnert das an die umweltpolitischen Ideen, mit denen die Grünen vor Jahrzehnten allein standen, die aber längst in keinem Parteiprogramm mehr fehlen dürfen. Der Kampf um bezahlbare Tickets und um den Erhalt von Stehplätzen gehört dazu. Pistorius sagt: "Wenn sie in englische Stadien gehen, langweilen sie sich zu Tode. So einen Fußball wollen wir hier nicht."

Und DFL-Liga-Präsident Reinhard Rauball schwärmt gar, wie "bewundernswert" er "die Leistungen für die Gesellschaft, die manche Ultra-Gruppen bringen", findet. Die Liga hat erkannt, wie sehr einiges aus der diffusen Ultra-Programmatik sogar dem internationalen Renommee der Bundesliga zugute gekommen ist. Wenn da nur die "rote Trennlinie" nicht wäre, von der Rauball, Pistorius und Watzke sprechen.

Da das wichtigste Klebemittel von Ultra-Gruppen die Gemeinschaft ist, findet selten eine Distanzierung von Gruppen-Mitgliedern statt. Auch nicht von jenen, die glauben, "die Ehre des Vereins" mit Fäusten und Pflastersteinen verteidigen zu müssen. "In einigen Gruppen", sagt einer, der nicht genannt sein will, "bestimmen inzwischen die stumpfen Leute, die gut boxen können, den Diskurs. Früher bist du in einer Gruppe was geworden, wenn du was auf dem Kasten hattest." In Dortmund etwa gelten die "Desperados" inzwischen als Gruppe, in der sich die Schläger-Fraktion durchgesetzt hat - ohne dass deshalb alle mitmachen würden.

Selbst bei den "Schickeria"-Ultras des FC Bayern, die aufwendige Choreografien zu Ehren des ehemaligen, von den Nazis vertriebenen Klub-Präsidenten Kurt Landauer aufgeführt haben, wurde unlängst einer der Mitbegründer wegen Gewalttätigkeiten zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Eine Entsolidarisierung der Nicht- Gewalttätigen von den Gewaltbereiten aber kommt auch bei den Münchnern offenbar nicht in Frage. Fanbetreuer glauben dennoch, dass die Debatte über Gewalt in vielen Gruppen erst losgeht. "Viele haben die Schnauze voll, dass sie dauernd für die Ausraster von einigen wenigen den Kopf mit hinhalten sollen", sagt einer. In vielen Ultra-Gruppen übernimmt gerade eine jüngere Generation die Meinungsführung. Für die neuesten Krawalle machen Szenekenner vor allem den in Mode gekommenen Drogen-Konsum bei vielen Ultras verantwortlich: "Kokain, Amphetamine, alles was aufputscht."

Dadurch wird alles noch unberechenbarer. Neu ist das nicht in Jugendkulturen. Angesichts der jüngsten Doping- und Aufputsch-Vorwürfe gegen das spielende Personal im Fußball mutet es schon fast ironisch an, dass sich auf den Stadion-Vorplätzen manche Fans für ihre irrationalen Kämpfe ebenfalls chemisch aufrüsten. Aber Achtung: In den 1960ern, als sich etwa die "Mods" formierten, hat auch niemand verstanden, was das eigentlich soll. In Anzug und Krawatte traf man sich, mit Amphetaminen aufgeputscht, zu Massenkeilereien, auch in der Nähe von Stadien. Mit Fußball hatte das alles nichts zu tun.

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Quelle:
SZ vom 14.03.2015/ebc
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