Süddeutsche Zeitung

Gewalt von Fußballfans:Oppositionelle hinterm Tor

Es tut sich was in den Kurven: Der Diskurs um Fußballfans, auch Ultras, sollte sich nicht auf die gewalttätigen unter ihnen beschränken. Es lohnt sich, ihnen zuzuhören.

Kommentar von David Kulessa

Für deutsche Fußballfans war es ein unrühmlicher Auftakt in die Europapokal-Saison: Als Borussia Dortmund vor drei Wochen zu Hause gegen den FC Kopenhagen in die Champions League startete, kam es bereits am Tag vor dem Spiel zu Prügeleien beider Fanlager, im Stadion flogen noch vor Anpfiff Leuchtraketen vom Gäste- in den Heimblock.

Und nach Spielende verhinderte wohl nur die Polizei ein weiteres Aufeinandertreffen der Fanlager. Anhänger des 1. FC Köln und von Eintracht Frankfurt lieferten dann bei ihren Auswärtsreisen nach Südfrankreich hässliche Szenen ab. In Nizza stürzte ein französischer Fan nach schweren Ausschreitungen mit FC-Fans fünf Meter tief und verletzte sich schwer, aus Marseille gibt es ein Video, auf dem zwei Anhänger der Eintracht den Hitlergruß zeigen.

Michael Gabriel, Koordinator der deutschen Fanprojekte, nahm unter anderem diese Vorfälle zum Anlass, in einem Interview mit der FAZ vor einem wachsenden Anteil an gewaltbereiten Fans in den Kurven zu warnen. Andere Fanvertreter widersprechen ihm. Der Dachverband der Fanhilfen weist zum Beispiel darauf hin, dass Fußballstadien sicherer seien als das Oktoberfest.

Klar ist immerhin, es geht um eine Minderheit. 8000 Kölner reisten nach Nizza, am Angriff auf den Block der französischen Fans waren nur 50 von ihnen beteiligt. In der aufgeregten Diskussion werden die anderen 7950 aber gerne in Sippenhaft genommen. Von Sicherheitskräften, von Medien, manchmal sogar von Vereinsvertretern. Was meistens fehlt, ist ein differenzierter Blick auf die organisierte Fanszene, die in den vergangenen zwei Jahren stark gelitten hat.

Als die Bundesliga im Mai 2020 ihren Spielbetrieb ohne einen einzigen Fan im Stadion wiederaufnahm, bedeutete das für viele eine Zäsur. Geld verdient der Profifußball mit den Leuten in den VIP-Sitzen auf der Haupttribüne und jenen, die bereit sind, 100 Euro für 17 verschiedene Streaming-Anbieter zu zahlen. Das wussten Ultras und Allesfahrerinnen auch vorher. Aber dass ausgerechnet das Derby zwischen dem BVB und Schalke zum Restart sogar nur für die TV-Kameras angepfiffen wird, das hatten viele bis dahin nicht für möglich gehalten.

Sie hielten sich trotzdem zurück, trafen sich nur in Einzelfällen bei unerlaubten Zusammenkünften und sabotierten keine Geisterspiele. Viele Ultras engagierten sich zudem gemeinnützig und unterstützten Supermärkte und Krankenhäuser.

Als jetzt, mit Beginn dieser Saison, endgültig alle pandemischen Einschränkungen aufgehoben wurden, nahmen die Fangruppen sich wieder jener Aufgabe an, die sie für sich beanspruchen. Ultras sehen sich auch als Opposition im modernen Fußball. Es gibt ja viel zu tun: Die 50+1-Regelung scheint ja mal wieder auf der Kippe zu sein, den Videobeweis gibt es in seiner aktuellen Form immer noch, die WM findet im Winter in Katar statt - und dann muss auch noch jedes Wochenende der großartigste Fußballverein der Welt besungen werden.

Gewalttätige Ausschreitungen von Fans in Dortmund, Frankreich und anderswo sind nicht zu tolerieren. Sie gehören aufgearbeitet und diskutiert, genau wie die Warnungen von Michael Gabriel. Aber darauf darf sich der Diskurs nicht beschränken. Die aktiven Fanszenen haben es verdient, dass man ihnen zuhört und ihre Transparente nicht nur liest, wenn dort jemandes Mutter beleidigt wird. Man sollte ihnen auch mal zugestehen, hin und wieder zu provozieren. Auch das gehört zur Oppositionsarbeit.

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