Süddeutsche Zeitung

Sven Ulreich:Bayerns Mann der kleinen Szenen

  • Der Ersatz-Torhüter Sven Ulreich ist beim FC Bayern immer bereit, obwohl er nie weiß, wann er bereit sein muss.
  • Auch im DFB-Pokalspiel gegen Werder Bremen ersetzt er wieder den verletzten Stammtorwart Manuel Neuer.
  • Das Champions-League-Halbfinale gegen Real prägt das Bild von Ulreich, doch es ist ein zu grob gezeichnetes Bild.
  • Nach SZ-Informationen soll sich der FC Bayern auf der Torwart-Position um den Schalker Alexander Nübel bemühen. Übernehmen soll dieser die schwere Rolle desjenigen, der Neuer einmal dauerhaft ersetzen soll.

Von Benedikt Warmbrunn

Manche Fußballspieler leiden darunter, dass die kleinen Szenen schnell wieder vergessen werden, die meisten dieser Leidenden sind Fußballtorhüter. Der Fußballtorhüter Sven Ulreich zum Beispiel hatte am Samstag nach einer halben Stunde eine solche Szene. Thiago und Javier Martínez, seine Mitspieler aus dem Mittelfeld, waren sich uneinig darüber, wer den Ball übernehmen sollte, dieses Missverständnis nutzte der Gegner, Werder Bremen, sofort aus, konterte, auf Ulreich zu. An der Seitenlinie sprang Niko Kovac, der Trainer von Ulreichs FC Bayern, in die Höhe, breitbeinig, mit angewinkelten Knien, so zornig war er. Ulreich aber eilte einfach aus seinem Tor hinaus, rutschte über den Rasen, dann hatte er den Ball unter seiner Brust begraben, rechtzeitig vor dem heraneilenden Milot Rashica. Kovac beruhigte sich, die Szene geriet in Vergessenheit. Am Ende der 90 Minuten hatte Ulreich kein Gegentor kassiert, er hatte dafür keine spektakuläre Aktion zeigen müssen.

An diesem Mittwoch (20.45 Uhr/ARD) spielt der FC Bayern im Halbfinale des DFB-Pokals bei Werder Bremen, es ist ein Abend für große Szenen. Irgendein Spieler wird das entscheidende Tor schießen. Vielleicht könnte es sogar ein großer Abend für Sven Ulreich werden, vielleicht kann er sich im Elfmeterschießen auszeichnen, vielleicht kann er zumindest einen Schuss auf sein Tor bekommen und auch abwehren, anders als beim 1:0 gegen Werder am Samstag. An Ulreichs Schicksal wird sich aber ohnehin wenig ändern: Er wird nie als ein Torwart wahrgenommen werden, der für Glanztaten oder überhaupt viele gehaltene Bälle stehen wird. Sven Ulreich, 30, wird wohl immer ein Torwart bleiben, an den sich die Menschen erinnern wegen der Bälle, die er nicht gehalten hat.

Das Rückspiel gegen Real prägt das Bild

Die vergangene Saison von Ulreich zum Beispiel wird eingerahmt von zwei mindestens unglücklichen Szenen. Die erste war eine aus dem September, als er gegen Wolfsburg einen harmlosen Freistoß ins eigene Tor patschte; es war das letzte Bundesliga-Spiel des Trainers Carlo Ancelotti. Die zweite Szene war eine aus dem Mai, als die ganze Fußballwelt Ulreich im Halbfinale der Champions League gegen Real Madrid bei einer Gedankenkollision zuschauen konnte. Nach einem zu kurzen Rückpass von Corentin Tolisso wollte Ulreich den Ball zunächst mit der Hand aufnehmen, doch dann fiel ihm ein, dass dies ja ein Regelverstoß wäre. Also grätschte er dem Ball entgegen, vergeblich, er kam zu spät gegen Karim Benzema; Ulreichs Orientierungslosigkeit kostete Bayern die Final-Teilnahme und wohl auch die letzte Kraft der Saison. An deren Ende verlor das Team auch das Pokalfinale.

Gerade das Rückspiel gegen Real prägt das Bild von Ulreich, doch es ist ein zu grob gezeichnetes Bild. Erst bei genauerem Hinschauen zeigt sich, dass der Torwart in seiner Funktion als Ersatzmann für den Kapitän Manuel Neuer eine seltene Kunstform perfektioniert hat: die, immer punktgenau bereit zu sein, auch wenn nie klar ist, wann genau er bereit zu sein hat.

Nach dem Patzer gegen Wolfsburg im September 2017 hatte Ulreich noch einmal intensiv über sein Spiel nachgedacht, und er hat dabei für sich beschlossen, dass er Neuer auch vertreten kann, ohne gleichzeitig ein Neuer-Double geben zu müssen. Er hat sich gesagt, dass sein Spiel nicht von spektakulären Aktionen leben muss, nicht von Aktionen, wie sie Manuel Neuer zum Beispiel bei der WM 2014 gezeigt hat, mit seinen Ausflügen bis zur Mittellinie im Achtelfinale gegen Algerien oder mit diesem einhändigen Wahnsinnsreflex im Viertelfinale gegen Frankreichs Benzema. Seitdem versucht der Torwart Ulreich einfach nur, der Torwart Ulreich zu sein.

Nun bekommt Ulreich also noch ein großes K.o.-Spiel

Ihm reicht es jetzt zu wissen, dass er sich in seinen nun fast vier Jahren in München fußballerisch verbessert hat, dass er ruhiger geworden ist, mit und ohne Ball. Ihm reicht es zu wissen, dass er von keiner Situation mehr überrascht werden kann - dass er jetzt sogar noch besser die Situationen vorhersehen kann. Gegen Bremen entschärfte er die Lage nicht nur nach einer halben Stunde, auch kurz nach dem 1:0 rannte er einmal weit aus seinem Strafraum hinaus und klärte letztlich souverän vor Yuya Osako. Und in der vergangenen Saison erreichte der FC Bayern auch nur deshalb das Halbfinale gegen Real, weil Ulreich in der Runde zuvor gegen Sevilla die Mannschaft mehrmals rettete.

Auch wegen Ulreichs innerer Stärke sagte in der vergangenen Woche der zurzeit an der Wade verletzte Neuer: "Sven ist bereit. Ich mache mir überhaupt keine Sorgen." Kovac sagte: "Sven hat bewiesen, dass wir uns auf ihn verlassen können."

Nun bekommt Ulreich also noch ein großes K.-o.-Spiel, "klar", sagt der Torwart über das Pokalduell gegen Bremen, "dann ist das Kribbeln noch ein bisschen größer". Als seriöser, fleißiger Fußballtorwart bereitet er sich natürlich auch auf ein mögliches Elfmeterschießen vor, aber er hat auch keine übertriebene Sehnsucht nach den großen Szenen. Er sagt: "Ich hoffe, dass wir das in 90 Minuten erledigen."

Entspannt geht Ulreich auch mit den zurzeit kursierenden Meldungen um, wonach der FC Bayern an Schalkes Alexander Nübel interessiert sei; der Vertrag des 22-Jährigen läuft nur noch bis Sommer 2020. Angesprochen auf diese Meldungen sagte Sportdirektor Hasan Salihamidzic: "Wie viele Spieler mit uns in Verbindung gebracht werden, da muss ich echt ab und zu mal schmunzeln." Allerdings ist Salihamidzic ohnehin einer, der gerne schmunzelt - auch nach SZ-Informationen soll sich der FC Bayern um Nübel bemühen. Übernehmen soll dieser die schwere Rolle desjenigen, der Neuer einmal dauerhaft ersetzen soll. Eigentlich war diese Aufgabe vorgesehen für den 19 Jahre alte Christian Früchtl. Der kämpft jedoch selbst immer wieder mit Verletzungen; zurzeit fehlt er aufgrund einer Bänderverletzung im Ellenbogen.

Ulreich sind all diese Meldungen herzlich egal. Er arbeitet weiter an seiner Karriere der vielen kleinen Szenen, und er findet, dass er auch auf diese Karriere stolz sein kann.

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Quelle:
SZ vom 24.04.2019/jki
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