Ukraine bei den Paralympics:Krieg, Spiele, Krieg

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Jewhenij Korinez wurde nahe Bachmut schwer verwundet. (Foto: Michael Reaves/Getty Images)

Jewhenij Korinez und Dmytro Melnyk spielen Sitzvolleyball für die Ukraine bei den Paralympics. Der eine hat im Militäreinsatz ein Bein verloren, der andere will nach den Spielen als Soldat weiterkämpfen.

Von Sebastian Fischer, Paris

Ein paar Tage lang spielen die Ukrainer Dmytro Melnyk und Jewhenij Korinez gemeinsam Sitzvolleyball in Paris, dann werden sich ihre Wege wieder trennen. Melnyk wird zurückkehren zu den Soldaten in seiner Einheit, die er an der Front verließ. Korinez wird erahnen können, was seinen Teamkollegen im Krieg erwartet, weil er es selbst erlebt hat, bevor er ein Bein verlor.

„Hier zu sein ist eine andere Chance, um unser Land zu vertreten und der Welt zu zeigen, dass wir noch da sind“, sagt Korinez, als er nach dem ersten Spiel der Mannschaft bei den Paralympics in der Interviewzone der Arena weit im Norden von Paris steht, wo die Sitzvolleyballer auf einem für diesen Sommer umgebauten Messegelände ihre Partien austragen. Kurz darauf kommt Melnyk. Wie ihm das gelinge, gerade von seinem Leben beim Militär in jenes als Athlet zu wechseln? Das Team, sagt er, sei seine zweite Familie: „Ich möchte ihr nützlich sein.“

Dmytro Melnyk versucht einen Ball gegen Iran zu blocken. (Foto: Christophe Ena/AP)

Kriege und ihre Wunden sind oft ein Thema bei Paralympischen Spielen, anders wären diese vielleicht nie entstanden. Ihr Fundament ist ein Wettbewerb im Bogenschießen für Kriegsversehrte im Jahr 1948, organisiert vom Neurologen Ludwig Guttmann in England. Seitdem haben immer wieder Veteranen teilgenommen, einige Nationen rekrutieren ihre Athleten beim Militär. Doch die Geschichte der Ukraine bei diesen Spielen, die Geschichte ihrer Sitzvolleyballmannschaft, sie ist eine spezielle, traurige, schwer fassbare.

140 Athletinnen und Athleten aus der Ukraine sind in Paris, sie wurden bei der Eröffnungsfeier mit warmem Applaus empfangen. Wie bei Olympia werden viele ihre Leistungen den Soldaten widmen und haben selbst widrigste Umstände erlebt. Rund 3000 Spitzensportler, heißt es, seien seit Kriegsbeginn zur Armee gegangen, mehr als 470 von ihnen gestorben. Nicht alle sind überzeugt, dass Paralympics gerade das richtige sind. Schwimmer Makym Krypak, der erfolgreichste Athlet der Spiele in Tokio, ist nicht dabei, weil er lieber zu Hause hilft. Auch dass 90 Russen unter neutraler Flagge in Paris sind, 75 mehr als bei Olympia, sorgte in der Ukraine für Ärger, es kommt bei den Paralympics zu ein paar direkten Duellen. Melnyk und Korinez, zwei von zwölf Sitzvolleyballern, die unmittelbarer vom Krieg kaum betroffen sein könnten, sind trotz allem da.

Das ukrainische Team bei der Eröffnungsfeier. (Foto: Julien De Rosa/AP)

Korinez, 27, hat als Physiotherapeut gearbeitet, „ein normales Leben gelebt“, erzählt er, bevor Russlands Truppen im Februar 2022 in der Ukraine einmarschierten. Danach habe er sich sofort zum Militärdienst gemeldet, wurde Soldat in einer Verteidigungsstaffel, wechselte später als Sanitäter in eine Brigade nahe Bachmut, bis er verwundet wurde und sein Bein verlor.

Wie er es so schnell zum paralympischen Athleten gebracht habe, will ein Journalist wissen; es sind an diesem Tag einige in der Halle, um mit den Ukrainern zu sprechen. Sein Vater, dem selbst ein Bein fehle, sei ein Vorbild gewesen, antwortet Korinez: „Wie er sein Leben lebt, fischen und jagen geht, Pilze im Wald sammelt, alles ganz normal“. Er selbst will nun auch ein Vorbild sein für die vielen verwundeten Veteranen, womöglich vielen zukünftigen Athleten bei Paralympics.

Melnyk wollte unbedingt zum Militär, musste seine Vorgesetzten acht Monate lang überzeugen

Para-Sport ist in der Ukraine eine ruhmreiche Sparte, die Mannschaft traditionell erfolgreich. So herausfordernd und voller Barrieren das Leben dort für Menschen mit Behinderung auch vor dem Krieg schon war, im Sport gibt es ein Netzwerk aus Regionalzentren, die ihnen das Training ermöglichen.

Dmytro Melnyk, 45, war lange ein Sportler in diesem System, mit dem Sitzvolleyballteam war er schon 2016 bei den Paralympics. Bei einem Sturz von einem Balkon als 18-Jähriger brach er sich Becken und Hüfte, seitdem ist sein linkes Bein zehn Zentimeter kürzer als sein rechtes, er hat einen humpelnden Gang. Trotzdem wollte er nach Kriegsbeginn zum Militär. So sehr, dass er seine Vorgesetzten offenbar überreden musste. „Es hat acht Monate gedauert, bis ich sie überzeugt hatte“, sagt er. Den Kameraden habe er gesagt, dass sein Gang an zu engen Schuhen liege. Melnyk lächelt, als er das erzählt.

Dmytro Melnyk will nach den Spielen wieder an die Front zurückkehren. (Foto: Christophe Ena/AP)

Vorher, auf dem Volleyballfeld in der Arena, haben die Ukrainer immer wieder gejubelt, ein paar Zuschauer schwenkten blau-gelbe Fahnen. Sie verloren ohne Satzgewinn gegen den hohen Favoriten Iran, aber führten immerhin kurz im dritten Satz. Melnyk saß zunächst auf der Bank, wurde eingewechselt. Vor zwölf Tagen sei er noch an der Front gewesen, sagt er. Dass er dort in den Einsatzpausen sein Spiel trainierte, etwa Aufschläge und Schmetterbälle gegen eine Ziegelwand, hat er in den vergangenen Monaten mehreren Medien erzählt, etwa dem US-Sender NBC.

In Paris spielen die Ukrainer noch mindestens bis Mittwoch. „Wir haben alle Chancen, wir werden bis zum Ende kämpfen“, sagt Korinez über die Ambitionen bei den Paralympics. Er spricht auch schon über die fernere Zukunft: Das Team der Ukraine werde stärker werden, der Behindertensport sich weiterentwickeln.

Als Melnyk über die Zukunft spricht, sagt er, dass er hoffe, bei der Rückkehr an der Front nach den Paralympics alle 35 Soldaten seiner Einheit lebend wiederzusehen. Dann bricht die Übersetzerin unter Tränen das Interview ab. Dmytro Melnik salutiert zum Abschied, lächelnd.

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