EM-Teilnehmer Ukraine:Kämpfen und siegen

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Ein Lächeln als Trost in schwierigen Zeiten: Nationalspieler Mychajlo Mudryk macht nach dem öffentlichen Training der ukrainischen Nationalmannschaft in Wiesbaden Fotos mit Fans. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Fußball als Mutmacher: Das Team der Ukraine hat sich trotz des Kriegs in der Heimat zur EM gearbeitet. Schon beim ersten öffentlichen Training in Deutschland wird klar: Die Mannschaft will das Turnier auch für politische Statements nutzen.

Von Frank Hellmann, Wiesbaden

Mitunter braucht es einfach Ablenkung. Erst recht für Menschen, die im Krieg beide Beine verloren haben. Einige in Deutschland behandelte Kriegsversehrte saßen direkt vor der Haupttribüne der Arena in Wiesbaden, als sich vor ihnen die ukrainische Nationalmannschaft aufstellte. Wer länger in ihre Gesichter sah, konnte irgendwann ein Lächeln entdecken. Es war ein bewegender Moment, als die in einem weißen Kleid erschienene Opernsängerin Olena Romaniv sich das Mikrofon griff, um die Nationalhymne der Ukraine zu singen und die Fußballer die Hand aufs Herz legten.

Das öffentliche Training der Ukrainer in der hessischen Landeshauptstadt geriet zu einer Solidaritätsaktion, die nicht nur die fast 4000 Augenzeugen berührte. Hinterher formierten sich die Spieler um den Anstoßkreis, um ebenfalls zu applaudieren. Akteure wie Andrij Jarmolenko, einst auch für Borussia Dortmund am Ball, nahmen blau-gelbe Anhänger in Herzform von geflüchteten Landsleuten auf den Rängen entgegen. Zuvor hatte Hessens Ministerpräsident Boris Rhein die Bühne auf dem Rasen genutzt.

„Sie können ein Wunder vollbringen – so, wie die Männer und Frauen gerade in der Ukraine ein Wunder für die Freiheit vollbringen“, rief der CDU-Politiker. „Ihr seid wahrscheinlich das beste Team, das es jemals gegeben hat aus der Ukraine.“ Er drücke diesem Ensemble jedenfalls genauso den Daumen wie dem deutschen Team: „Dafür haben wir zwei Daumen.“ Und an die Bevölkerung der kriegsgeplagten Nation gerichtet: „Die Männer und Frauen in der Ukraine verteidigen gerade ihr Land gegen einen Kriegsverbrecher, gegen Wladimir Putin und Russland.“

Kurz darauf ertönte aus vielen Kehlen der Slogan, der vieles verbindet: „Slawa Ukrajini – Herojam Slawa“ (Ruhm der Ukraine – Ruhm den Helden). Die Spielstätte des gerade in die 3. Liga abgestiegenen SV Wehen Wiesbaden liegt passenderweise ja an der Berliner Straße; EM-Fußball und die große Politik gehörten an diesem Tag zusammen. DFB-Generalsekretärin Heike Ullrich fand die Veranstaltung jedenfalls gelungen. „Es war ein besonders herzlicher Empfang, der mich tief beeindruckt hat“, sagte Ullrich, ehe die mächtigste Funktionärin des Verbandes nach München weiterreiste. Nationaltrainer Sergej Rebrow bedankte sich noch in ihrem Beisein über das Stadionmikrofon: „Deutschland ist ein sehr starker Partner. Nicht nur hier.“

Später holte der im vergangenen Jahr kurz vor dem Jubiläumsspiel gegen Deutschland (3:3) eingestellte Coach noch ein wenig weiter aus: „Ich weiß, dass viele Menschen von diesem Krieg müde sind, aber wir dürfen nicht aufhören zu kämpfen und brauchen weiter die Unterstützung.“ Der lange in England aktive ehemalige Nationalspieler hält es für elementar, bei der vierten EM in Serie mitzumachen: „Wir wollen zur europäischen Familie gehören, und in dem Krieg kämpfen wir für ganz Europa.“ Das Spannungsfeld kann aus seiner Sicht ein Ansporn sein. Insbesondere in den Playoffs gegen Bosnien (2:1) und Island (2:1) hatte Rebrow stets betont, dass seine Sportler auch die Soldaten vertreten und ihnen als Vorbild dienen müssten.

„Das ist nicht einfach für uns, aber wir wollen ein starkes Turnier spielen“, sagt Kapitän Taras Stepanenko

Sein Team begnügte sich nach der langen Anreise im Bus von Kiew nach Warschau und im Flugzeug nach Frankfurt mit einer lockeren Einheit. Mychajlo Mudryk vom FC Chelsea schaute sich den letzten Teil sogar sitzend hinter dem Tor an. Die Delegation wohnt streng bewacht in Taunusstein, hält die Medientermine aber in Wiesbaden ab, wo Pappfiguren der prominentesten Protagonisten mit Bezügen zum Krieg ausgestellt sind. Mittelstürmer Artem Dowbyk, beim FC Girona Torschützenkönig in Spanien, wird auf seiner Abbildung so zitiert: „Der Mut unseres Militärs – unser Schlüssel zum Sieg!“ Mit den Journalisten sprach am Donnerstag Kapitän Taras Stepanenko. Er sagte: „Jeden Morgen nach dem Aufwachen lesen wir die Nachrichten, dass Russland unsere Menschen tötet und unsere Städte zerstört. Das ist nicht einfach für uns, aber wir wollen ein starkes Turnier spielen.“ Motto: kämpfen und siegen. Der 34-Jährige von Schachtar Donezk ist der emotionale Anführer einer Mannschaft, die seit dem russischen Überfall als Symbol dafür dient, Widerstände zu überwinden: „Es ist eine Ehre für uns, hier zu sein.“

Der Trainer möchte sogar, dass sein Team in Deutschland wiederholt auf den Kampf an zwei Fronten angesprochen wird. „Je häufiger wir darüber reden, desto besser kommen wir damit klar“, beteuerte Rebrow. Über Sportliches wollte der 50-Jährige (noch) nicht reden. „Dafür ist die Pressekonferenz vor dem Spiel.“ Ihren ersten Auftritt hat die Ukraine am Montag in München gegen Rumänien, dann geht es noch in Düsseldorf gegen die Slowakei (21. Juni) und in Stuttgart gegen Belgien (26. Juni). In dieser Gruppenkonstellation ist es keineswegs unmöglich, noch etwas länger Ablenkung zu stiften. Die Ukraine könnte sie dringend gebrauchen.

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