Ukraine:Fast so gut wie Schewtschenko

Fußball EM - Ukraine - Nordmazedonien

Andrej Jarmolenko bejubelt seinen Treffer gegen Nordmazedonien. Es war sein 42. Tor für die Nationalmannschaft.

(Foto: Robert Ghement/dpa)

Die Ukraine hat sich erheblich weiterentwickelt - auch weil inzwischen mehr Spieler als früher im Ausland unter Vertrag stehen. Bei der EM überzeugt vor allem Offensivspieler Andrej Jarmolenko.

Von Johannes Aumüller, München

Andrej Jarmolenko war so gut gelaunt, dass er sich prompt am lustigen Flaschenrücken beteiligte, das die Spieler bei der EM nach der Inspiration von Cristiano Ronaldo betreiben. Zwei Cola schob der ukrainische Nationalstürmer ins Bild, dazu ein Bierchen, "kontaktiert mich", rief er schmunzelnd in die Kameras und den Getränkeherstellern zu - und dann entschwand er mit seiner Trophäe, die ihn nach dem Aufeinandertreffen seiner Mannschaft mit Nordmazedonien als "Spieler des Spiels" auswies.

Jarmolenko, 31, hat gerade Anlass, prächtiger Stimmung zu sein. Seitdem er 2017 seinen Heimatklub Dynamo Kiew verlassen hatte, lief es nicht wirklich gut für ihn, weder bei seiner ersten Auslandsstation Borussia Dortmund noch bei West Ham United, wo er seit drei Jahren unter Vertrag steht, aber auch wegen den Folgen von Verletzungen konnte er kaum überzeugen. Aber bei der Nationalmannschaft, da sieht die Lage ganz anders aus.

Die Ukraine spielt bisher ein durchaus ansprechendes Turnier: Gegen die Niederlande gab es nach einem wilden Spiel ein 2:3, gegen Nordmazedonien ein 2:1. Jarmolenko hat einen erheblichen Anteil daran, indem er jeweils ein Tor und eine Vorlage beisteuerte, genauso wie Nebenmann Roman Jaremtschuk. Damit reicht den Schowto-blakytni (Gelb-Blauen), wie die Ukrainer ihre Nationalmannschaft nennen, an diesem Montag (18 Uhr) gegen Österreich bereits ein Remis fürs Weiterkommen; anders als dem Gegner, der gewinnen muss, um sicherzugehen.

Erst einmal bei einem großen Turnier überstand die Ukraine die Gruppenphase

Seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 hat das Land nur einmal bei einem großen Turnier die Vorrunde überstanden: Bei der WM 2006 war das, als es im Viertelfinale gegen Italien ausschied. Bei einer EM wäre es eine Premiere, und es wäre ein durchaus verdienter Lohn. Denn die Mannschaft von Andrej Schewtschenko hat sich zuletzt merklich entwickelt, ihre Qualifikationsgruppe etwa beendete sie vor dem amtierenden Europameister Portugal.

Es gehört zur guten Tradition, dass das überwältigende Gros in der Nationalmannschaft die beiden dominierenden Klubs der ukrainischen Liga stellen: Dynamo Kiew und Schachtjor Donezk, das nach dem Beginn des Bürgerkrieges in seiner Heimatregion auf Wanderschaft ging und seit dem Vorjahr seine Heimspiele ebenfalls in Kiew austrägt. Das führte angesichts des überschaubaren Niveaus des nationalen Championats oft zu dem Vorhalt, dass die Spieler zu selten wirklich gefordert würden - und sich entsprechend nicht genügend weiterentwickelt würden.

Diesmal sind es stolze 17 Spieler aus Kiew/Donezk, aber zugleich hat sich inzwischen auch die Zahl der Akteure, die bei ausländischen Klubs unter Vertrag stehen, erkennbar erhöht. Bei der Heim-EM 2012 etwa spielten allein die Bundesliga-erfahrenen Anatolij Tymoschtschuk (damals FC Bayern) und Andrej Woronin im Ausland - im jetzigen Kader sind es immerhin sieben, und viele von ihnen haben tragende Rollen inne.

Sein Spitzname: "Der Junge aus 130 Kilometern"

Dazu gehört etwa Defensivspieler Oleksander Sinchenko, der bei Manchester City zum Stamm von Trainer Pep Guardiola zählt, wenngleich ihm im Champions-League-Finale gegen den FC Chelsea das entscheidende Malheur unterlief. Mittelfeldspieler Ruslan Malinowski und Angreifer Jaremtschuk wiederum wurden vor ein paar Jahren von den Verantwortlichen in Donezk und Kiew als zu schwach eingestuft und entwickelten sich nun bei Bergamo (Malinowski) beziehungsweise Gent (Jaremtschuk) zu Stützen der Nationalmannschaft. Aber der wichtigste Mann für das ukrainische Team dürfte im Moment Flügelstürmer Andrej Jarmolenko sein.

Jarmolenko hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich, seitdem er in jungen Jahren in einem kleinen, 130 Kilometer von der Hauptstadt Kiew entfernt gelegenen Ort den Talentspähern auffiel. Dieser Tag brachte ihm dann erstens einen Platz in der Jugendakademie von Dynamo und zweitens einen eher ungewöhnlichen Spitznamen: "Der Junge aus 130 Kilometern", nannten sie in Kiew. Fast zehn Jahre spielte er für die Profimannschaft des Klubs, ehe er sich entschied, ins Ausland zu gehen: erst Dortmund, dann London. Aber bei beiden Klubs schien er sich nie richtig wohl zu fühlen - anders als in der Nationalmannschaft. "Hier ist es einfach so, dass die Trainer an mich glauben", erklärte nach dem Spiel gegen Nordmazedonien.

In der Nationalelf läuft es gerade so gut für ihn, dass er bald sogar einen bemerkenswerten Rekord brechen könnte. Auf 48 Treffer kam der große Andrej Schewtschenko in seinen Angreifer-Jahren für die Nationalmannschaft, und Torrekorde von Schewtschenko sind in der Ukraine in etwa so heilig wie Bundesliga-Bestmarken von Gerd Müller. Jarmolenko steht nun schon bei 42 Treffern, es fehlt nicht mehr viel für die frevelhafte Tat. Aber die maßgebliche Person hat ihm schon die Erlaubnis dafür erteilt. "Ich erwarte den Tag, an dem Jarmolenko meinen Torrekord bricht", sagte Schewtschenko kürzlich: "Ich werde darüber sehr froh sein."

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