Junge Schwimmerinnen in London:Olympisches Wasser voller Wunderkinder

Gold für eine 15-Jährige, Weltrekord für eine 16-Jährige: Wie lassen sich aus dem Nichts Fabelzeiten aufstellen? Dicke Muskelpakete sind nicht entscheidend, sie bremsen eher - Experten finden trotzdem keine vernünftige Erklärung für die verblüffenden Leistungen der jungen Sportlerinnen. Über allem schwebt das böse D-Wort.

Werner Bartens

Dramatische Favoritenstürze und der Triumph bisher namenloser Außenseiter, die kein Experte auf der Rechnung hat, machen einen großen Reiz des Wettkampfsports aus. Manche Erfolge bei den Schwimmwettkämpfen in London sind allerdings so überraschend, dass sogar die Fachwelt nach Erklärungen sucht: Eine zierliche 16-jährige Chinesin pulverisiert den bisherigen Weltrekord über 400 Meter Lagen. Und eine 15-Jährige aus Litauen gewinnt Gold über 100 Meter Brust.

Olympia 2012: Schwimmen

Mit Zahnlücke zu olympischem Gold: Ruta Meilutyte aus Litauen gewinnt das Finale über 100 Meter Brust.

(Foto: dapd)

Wie kommt es, dass diese Kindfrauen die Konkurrenz schockieren und den älteren und erfahrenen Schwimmerinnen so erbarmungslos davonziehen? Und wie kann es sein, dass die 16-jährige Ye Shiwen bei ihrem Weltrekord über 400 Meter die letzten 50 Meter schneller krault als Olympiasieger Ryan Lochte ein paar Minuten zuvor über die gleiche Distanz?

Ob Laufen, Werfen, Springen oder Gewichtheben - in allen Sportarten, in denen es um Kraft oder Ausdauer geht, sind Männer den Frauen überlegen. Mit den immer noch unter Verdacht stehenden 10,49 Sekunden über 100 Meter von Florence Griffith-Joyner, die seit 1988 den Weltrekord markieren, hätte die 1998 gestorbene Sprinterin zwar gelegentlich auch bei den Deutschen Meisterschaften der Männer gewonnen, von dem 9,58-Sekunden-Weltrekord von Usain Bolt ist ihre Zeit aber mindestens so weit entfernt wie das deutsche Olympiateam davon, die Medaillenwertung in London zu gewinnen.

Über lange Ausdauerstrecken wie im Marathonlauf kommen sich die Weltbestzeiten von Männern und Frauen schon vergleichsweise nahe, auch wenn es von den 2:15 Stunden der bisher schnellsten Frau einer enormen Leistungssteigerung bedürfte, um die 2:03 Stunden des bisher schnellsten Mannes zu gefährden.

Was ist also los in der Schwimmwelt? Um nicht eine neue Geschlechterdebatte zu eröffnen und das Triumphgeschrei über die gebrochene Dominanz der Männer nicht zu laut werden zu lassen, muss man allerdings einschränken: In dem Finale über 400 Meter Lagen gab es durchaus Männer, die im Endspurt schneller kraulten als die junge Chinesin, nur eben nicht Sieger Lochte.

Experten finden dennoch keine vernünftige Erklärung für die Weltrekorde der jungen Frauen, wenn sie das böse D-Wort und die Diskussion um unerlaubte Substanzen vermeiden wollen. "Ich weiß nicht, wie das physiologisch funktionieren soll", sagt Martin Halle, Chef der Sportmedizin an der Technischen Universität München. "Ich habe das gesehen und dachte: Was ist das denn jetzt?"

Zur Verdeutlichung: Die 400 Meter Lagen gelten unter Schwimmern als die brutalste, anspruchsvollste und schmerzhafteste Distanz überhaupt. Alle vier Disziplinen - Delfin, Rücken, Brust, Kraul - müssen hintereinander jeweils 100 Meter geschwommen werden. Sprintqualitäten sind natürlich gerade im Finish gefragt, aber bei 400 Metern Lagen geht es vor allem um Kraft und Ausdauer.

"Affenfaktor" und Quadratlatschen

Der Vergleich hinkt: Würde man den Wettkampf der Chinesin auf die Leichtathletik übertragen, müsste man sich eine Läuferin vorstellen, die einen neuen Fabelweltrekord über 400 Meter aufstellt - und dabei die letzten hundert Meter schneller läuft als Männer-Rekordhalter Michael Johnson. Schwer vorstellbar für Sportler wie für Sportmediziner und Physiologen.

Natürlich gibt es körperliche Faktoren, die Erfolge im Sport begünstigen. Beim Schwimmen ist der "Affenfaktor" wichtig, also ob die Spannbreite der Arme länger ist als die Körpergröße. Neben langen Armen und einem langen Oberkörper helfen große Hände und Füße, den Körper wie riesige Paddel voranzutreiben. Zudem ist eine große Flexibilität der Schulter- und Fußgelenke wichtig, um die Rotationsbewegungen der Arme und den Beinschlag optimal ins Wasser zu bringen.

Ian Thorpe mit seinen Quadratlatschen und Michael Phelps, dessen Oberkörper so aussieht, als ob er aus ein paar zusätzlichen Brustwirbeln zusammengebaut wurde, haben diese für Schwimmer idealen exzentrischen Maße. Die frisch gebackene Goldmedaillengewinnerin über 100 Meter Rücken, Missy Franklin aus den USA, hat ebenfalls ungewöhnlich große Füße und sehr lange Arme.

Bei Frauen wird zudem der Körperfettanteil diskutiert, wenn junge Schwimmerinnen Rekorde aufstellen. "Die typischen weiblichen Fettdepots sind ja mit 15, 16 noch nicht vollständig ausgebildet", sagt Sportmediziner Halle. "Dazu gibt es zwar keine Studien, aber diese knabenhafte Figur verbessert die Stromlinienform, und das Gewicht ist nicht so hoch - beides bringt Vorteile beim Schwimmen."

In der Tat sind viele Schwimmerinnen mit ihrem mächtigen Kreuz und ausgeprägten Oberschenkeln eher korpulent, die Chinesin Ye wirkt hingegen fragil. Auch der französische Schwimmstar Yannick Agnel, der über 200 Meter Freistil Gold gewann und in der Kraulstaffel sogar Superstar Lochte überholte und damit Frankreich Gold sicherte, ist im Vergleich zum Muskelpaket Paul Biedermann eher zart gebaut.

Dicke Muskelpakete sind also nicht entscheidend, um im Wasser rascher voranzukommen. Sie ermüden sogar schneller. Die sich bei Anstrengung vermehrt in den Muskeln bildende Milchsäure ("Laktat") tut nämlich höllisch weh.

Neuere Dopingmittel, die sich bisher kaum nachweisen lassen, zielen denn auch weniger darauf ab, allein Kraft oder Ausdauer zu steigern. Vielmehr können sie die Ermüdung hinauszögern und dazu beitragen, Schmerzen länger zu ertragen, wenn die Muskeln brennen. Leistungssportler haben im Mittel sowieso eine deutlich höhere Laktattoleranz, das heißt, sie halten die Milchsäureablagerung länger aus. Ließe sich diese muskuläre Duldsamkeit steigern, purzelten demnächst sicher weitere Rekorde.

Zweifel bleiben angesichts der neuen Fabelzeiten. Wer zur Weltelite im Schwimmen gehört, der braucht jahrelanges Training, um seine Zeit um wenige Zehntelsekunden zu steigern. Die 15-jährige Ruta Meilutyte aus Litauen hat hingegen ihre Zeit über 100 Meter Brust von März bis zum Olympiasieg im Juli dieses Jahres um zwei Sekunden verbessert. Man will für sie und den Schwimmsport hoffen, dass ihr Erfolg auf veränderte Körpermaße und intensives Training zurückzuführen ist.

Andere Geheimnisse? Alle Schwimm- und Sportteams sind auf der Suche nach der optimalen Körperformel und der richtigen Vorbereitung für Männer wie Frauen. "Natürlich fragen sich alle, wie man schneller wird", sagt Sportmediziner Halle. "Genauso könnte man gerade fragen: Warum bleiben die deutschen Schwimmer alle im Wasser liegen?"

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