Süddeutsche Zeitung

TV-Ereignis WM (6): Fußballabend im Web:Läuft diese WM immer noch?

Klischees und Kalauer im ZDF, Phrasendrescherei und Mode-Fauxpas auf RTL - da lohnt sich ein Blick ins Netz. Umgeben von Twitter, Live-Streams und Vuvuzela-Simulator entwickelt ein WM-Abend eine ganz eigene Dynamik.

Johannes Kuhn

Oliver Kahn hat einen Favoriten: "Die Dehnen". Dänemark, vom ehemaligen Nationaltorhüter mit dem langgezogenen Favoriten-E ausgesprochen, sei fußballerisch reifer als die Japaner. Die wiederum seien dafür immerhin höflich. "Toll, die Mentalität", schwärmt der ZDF-Expertentitan. Und so geordnet, im Leben wie auf dem Fußballplatz, behauptet Moderationspartnerin Katrin Müller-Hohenstein.

Im Kampf um die Quote scheut das ZDF keine Klischees, um den Fußballfan bei der Stange und weg von der Konkurrenz RTL zu halten, die an diesem Abend das bedeutungslos gewordene Spiel Niederlande gegen Kamerun zeigt. Doch seien wir ehrlich: Die Gruppe E ist an diesem letzten WM-Spieltag ungefähr das, was Hannover 96 oder der VfL Bochum für die Bundesliga sind.

Um die Begegnungen etwas spannender zu gestalten, will ich deshalb auch die Live-Reaktionen im Netz verfolgen. Im Idealfall kann ein WM-Spiel beim Microbloggingdienst Twitter wie ein Fußballabend mit virtuellen Bekannten sein: Alle reißen Sprüche und die Nervensägen werden nicht der Wohnung, sondern des Bildschirms verwiesen.

Doch beim Bildschirm beginnt das Problem bereits: Die beiden Live-Streams der Partien und die aktuellen Nachrichten aus dem Netz erfordern eigentlich mehrere Monitore. Als ich gerade überlege, ob ich vielleicht die alte Dame in der Wohnung unter mir fragen soll, ob ich ihren Röhrenfernseher an meinen Computer anschließen kann, taucht bereits das nächste Problem auf. Die Zuschauer, so erklären die Kommentatoren bei ZDF und RTL stolz, können die Texte der Hymnen per Videotext einblenden. Ich stelle fest: An alles wird in diesem Internet gedacht, nur nicht an Videotexteinblendungen.

Videotext im Netz?

Weil bei zwei Streams gleichzeitig meine Internetverbindung einen fairen Kompromiss schließt und beide ruckeln lässt, sind die ersten Minuten ein eher zähes WM-Vergnügen. Auch die Twitter-Nachrichten unter dem Schlagwort "worldcup" überfordern mich, laufen doch in wenigen Sekunden tausende Nachrichten ein, viele davon aus Japan.

Halb vier Uhr morgens ist es dort gerade, erfahre ich, doch die Google-Übersetzung mancher Kurznachrichten ist recht eigenwillig. "Wünschen Ihnen einen schönen Tag (und auch gestern Morgen)" heißt es da zum Beispiel. Katrin Müller-Hohenstein und Oliver Kahn fänden das bestimmt allerliebst - anders als die "Dehnen", die mit den flinken Japanern auf dem Rasen deutliche Probleme haben.

Auf RTL hat Jürgen Klinsmann in den Taschen seiner Strickjacke offenbar einige Kärtchen mit Fußballerphrasen versteckt. "Sneijder und van der Vaart zusammen seh' ich als unproblematisch an. Wenn sich beide bewegen, gibt es Impulse". Als ich schon bei Amazon Klinsmanns famoses Phrasenbuch bestellen möchte, schießt Japan das 1:0 per Freistoß. Und gleich das 2:0 hinterher, ebenfalls per Freistoß. Der Reporter hatte zuvor noch etwas von einem "Anlauf in Cristiano Ronaldos John-Wayne-Stil" gemutmaßt und kann sich nun bestätigt fühlen.

Inzwischen haben auch die Niederlande getroffen, doch Klinsmann und seine Strickjacke erhalten weiterhin schlechte Noten. "Schön, wenn Männer den Ehrgeiz mit dem Alter entwickeln, total unsexy zu wirken", schreibt eine Twitter-Nutzerin, "fehlen nur noch die Pantoffeln zur Strickjacke."

Musste man früher die Halbzeitpausen dafür nutzen, Bier aus dem Keller zu holen, bietet das Internet heutzutage das perfekte Überbrückungsprogramm. Ich probiere mich am Online-Vuvuzela-Simulator aus und führe mir die Vuvuzela-Version von Ravels Bolero zu Gemüte (siehe oben).

China-Kracher statt Dynamit

Die zweite Halbzeit ist auf dem Platz geprägt von beinahe slapstickartigen Fußballeinlagen des dänischen Seniorenstürmers Jan Dahl Tomasson, während im Netz noch einmal das Ausscheiden Italiens thematisiert wird. "Wenn Italien gewinnt, bedeutet das hier eine schlaflose Nacht und eine Parade von zehntausend Fiats", schreibt ein Nutzer aus London, "Heute kann ich nicht einmal das entfernte Scheppern eines Eiswagens hören."

Am Ende siegt Japan mit 3:1 und der ZDF-Mann kann noch einen Kalauer anbringen: "Danish Dynamite war heute eher so etwas wie ein China-Kracher", sagt er, und als ich daran denke, was Karin Müller-Hohenstein und Oliver Kahn nach dem Sieg alles über die netten Japaner erzählen werden, ergreift mich Panik.

Ich schließe schnell das Fenster mit dem Live-Stream, als eine Twitternachricht aus den USA aufpoppt. "Läuft diese Weltmeisterschaft immer noch?", fragt dort jemand, "Wie steht Australien? Ich hab 'ne Stange Geld auf die gesetzt."

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