TV-Ereignis WM (8): Delling/Netzer:"Ich habe Sie nie verstanden"

Scheidung der Siezfreunde: Beim Spiel um den dritten Platz analysiert letztmals das Duo Netzer/Delling einen Fußballabend. Es verabschiedet sich auf die gewohnt kabbelige Art - und mit sportlichen Prognosen, die gehörig danebenliegen.

Johannes Aumüller

Am Ende gibt es ein ganz großes Lob. Zunächst dieses: "Ich mag seine Art zu reden." Und dann auch noch dieses: "Alles, was er gesagt hat, ist eingetreten." Wer würde dem schon widersprechen wollen, wenn es um Günter Netzer, den Altmeister der Fernsehfußballkritik, geht? Doch in diesem Fall geht es gar nicht um Netzer, sondern stammen die beiden Sätze von Netzer - und gelten sie dem Bundestrainer Joachim Löw, der gerade seine Mannschaft zum 3:2 gegen Uruguay und damit zum dritten Platz geführt hat. Aber vielleicht hat er sie auch ein kleines bisschen zu sich selbst gesagt.

Knapp fünfeinhalb Stunden zuvor tickt im Studio-Hintergrund neben dem üblichen Anstoßzeit-Countdown ein ganz besonderer Countdown. Noch fünf Stunden, 22 Minuten und 24 Sekunden dauert die Zeit von Günter Netzer als ARD-Fernsehexperte an der Seite von Gerhard Delling, doch der frühere Mönchengladbacher Mittelfeldregisseur pfeift auf den Countdown - und macht stattdessen das, was er kurz vor einem Spiel immer macht: Prognosen für den Spielverlauf abgeben.

An diesem Abend lauten seine Prognosen grob zusammengefasst so: Erstens - da spricht wohl der Patriot in ihm - sei die deutsche Mannschaft hochmotiviert und werde die Partie gewinnen. Zweitens - da spricht wohl der Vertreter der Aktiven-Generation, die Uruguay bisweilen als Treter-Gruppe erlebte, in ihm - werde es heute sehr rustikal und sehr handwerklich zugehen. Und drittens - da spricht jetzt der Experte - stehe Uruguay sehr massiv und verfüge über eine starke Defensive, weshalb es nicht zu einem Spiel mit offenem Visier kommen werde.

Provokation von Völlers Wutausbruch

Das Spiel um Platz drei bildet nicht nur den Abschluss für eine vorzügliche WM der deutschen Nationalmannschaft, sondern auch den Rahmen für den letzten gemeinsamen Auftritt des Duos Gerhard Delling/Günter Netzer. Ein Duo, das seit 1998 zweifelsohne ein Stück Fernsehgeschichte geschrieben hat, den Grimme-Preis und den Medienpreis für Sprachkultur bekommen hat und das für sich reklamieren kann, den auf ewig eindrücklichsten Wutausbruch eines Bundestrainer provoziert zu haben. Denn Rudi Völlers legendärerer Attacke auf Waldemar Hartmann 2003 waren mal wieder ein paar Spitzen von Netzer (und diesem Fall sogar von Delling) vorausgegangen.

So humorvoll, so klug und auf so einem rhetorisch hohen Niveau hätten die beiden stets die Spiele analysiert, lautete das weiterverbreitete Lob. "Aus der Tiefe des Hirnes", lautete eine Überschrift. Nun ja, wer ehrlich war, musste feststellen, dass es so humorvoll, so klug und so ein hohes rhetorisches Niveau nicht war. Wer ehrlich war, musste aber auch feststellen, dass es im deutschen Fernsehen aber über lange Strecken niemanden gab, der humorvoller, klüger und auf einem höheren rhetorischen Niveau die Spiele analysierte. Netzer war immer streng, immer distanziert und immer authentisch, das reichte im Fernsehfußballbusiness schon zum ebenso berechtigten wie unangefochtenen ersten Platz.

Doch irgendwann hatte das ZDF die Idee, auf Jürgen Klopp als Experten zu setzen. Und als der damalige Mainzer Trainer vor der WM 2006 plötzlich anfing, mit roten Kringeln und gelben Pfeilen auf einem Touchscreen herumzumalen und so vor einem Millionenpublikum richtige und falsche Laufwege, gute und schlechte Raumaufteilung, gelungene und weniger gelungene Rautenbildungen visualisierte und sprachlich auch noch die schwarz-rot-geile Stimmung zu bedienen wusste, schien die Zeit von Delling und Netzer vorbei. Zu einem euphorisierten Sommermärchenland passt eben kein Mann, der seit 35 Jahren dieselbe Frisur trägt, zwei Mal pro Dekade lächelt und oft so altmodische Wörter wie "töricht", aber niemals ein Wort wie "geil" benutzt.

Lauffaulheit versus Fußball-Ahnung

Dass sich Netzer und Delling auch über die Zeit der Kloppophorie hinweg hielten und ihre Popularität gegen Ende sogar noch einmal steigern konnten, ist vielleicht noch höher einzuschätzen als der "Gebrüder-Grimme-Preis", wie Franz Beckenbauer in seinem Abschiedswort an Günter Netzer scherzte. Dass es ihnen gelang, lag auch an einer, durchaus unterhaltsamen, Inszenierung ihrer Beziehung.

Privat gut befreundet, kabbelten sich Delling und Netzer vor der Kamera mit größtem Vergnügen und siezten sich bis zum Schluss - was für eine Seltenheit in der Waldemar-Hartmann-Duzsportlandschaft. Delling triezte Netzer immer wieder mit Verweisen auf dessen Lauffaulheit zu aktiven Zeiten und dessen schmerzlichsten Karriere-Momente. Dafür musste er sich dann im Gegenzug immer wieder anhören, von Fußball doch überhaupt keine Ahnung zu haben. "Die Samstagabend-Unterhaltung ist auf dem Tiefpunkt", hatte Delling vor Völlers Wutausbruch gesagt - manchmal sorgten er und sein Partner für kleinere Höhepunkte.

Auch ihre Abschiedsanalyse reiht sich ein in die besseren ihrer Sendungen. Nun gut, mit seinen Prognosen hat Netzer ziemlich danebengelegen. Deutschland war zwar hochmotiviert, doch Uruguay ging nicht besonders rustikal zu Werke und auch nicht so defensiv, und zu einem Spiel mit offenem Visier kam es entgegen Netzers Vermutung doch. Aber was soll's? Schließlich ist Netzer ein Experte, der hinterher genauso wortreich einen bestimmten Spielverlauf erklären kann, wie er zuvor wortreich einen bestimmten anderen Spielverlauf vorausgesagt hat.

Ein letzter kleiner Stich

Außerdem geht es an diesem letzten gemeinsamen Abend ja auch nicht um inhaltliche Nebensächlichkeiten, sondern um einen Schlussstrich unter einer kleinen Ära. Daher zeigt der Sender immer mal wieder alte Gemeinheiten und Gehässigkeiten aus dem Archiv, und als der Netzer-Countdown langsam nach unten tickt, fangen sie an, noch einmal alle Gemeinheiten und Gehässigkeiten auszupacken, die in gut zwölf Jahren noch nicht herausgerutscht waren. Vor allem Netzer ist in bester Laune und lächelt und lacht so oft wie in seiner gesamten Experten-Zeit zuvor nicht.

Und als der fünfeinhalb-Stunden-Marathon dann endlich vorbei ist, als Delling seinem Kompagnon die DVDs mit den besten Analysen, den lustigsten Versprechern und den wüstesten Beschimpfungen überreicht hat, als Beckenbauer, Blatter und Löw dem Experten Netzer ihr Lob ausgesprochen haben und als die Mitarbeiter der Sendung entgegen Netzers Wunsch doch noch eine kleine Abschiedszeremonie veranstalten, da kann Günter Netzer einen letzten kleinen Stich nicht unterlassen.

"Ich habe Sie in all den 13 Jahren nicht verstanden", sagt er zu Delling. Aber er sagte auch: "Sie haben sich in diesen 13 Jahren als echter Freund bewiesen."

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