Turner Ronny Ziesmer:Der tägliche Kampf um ein erfülltes Leben

Turner Ronny Ziesmer, nach einem verunglückten Trainingssprung gelähmt, sucht neue Ziele: in seinem Studium, der Gründung eines neuronalen Forschungszentrums, aber auch im Sport.

Volker Kreisl

Der Gedanke ist reizvoll. Man kann sich, sagt Ronny Ziesmer, mit so einem Handbike rasant fortbewegen. Man kann sich damit richtig austoben, "auskotzen", sagt er. Und noch mehr. Mit diesem handbetriebenen Rennrollstuhl könnte er irgendwann wieder an Wettkämpfen teilnehmen. "Man kann trainieren und an Marathonläufen teilnehmen", sagt Ziesmer, "in dem Sinne, dass man versucht, eine bestimmte Zeit immer wieder eine Sekunde nach unten zu schrauben." Das wäre dann also Leistungssport. Ziesmer will es sich noch eine Weile überlegen.

Turner Ronny Ziesmer: Angela Merkel übernahm die Schirmherrschaft für seine Projekte: Ronny Ziesmer mit seinem Rollstuhl im Garten des Bundeskanzleramtes.

Angela Merkel übernahm die Schirmherrschaft für seine Projekte: Ronny Ziesmer mit seinem Rollstuhl im Garten des Bundeskanzleramtes.

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Der Spätherbst ist eine Jahreszeit, die die Wirkung des Alltags verstärkt. Die Kälte und die Feuchtigkeit vertreiben all das Außergewöhnliche, die Farben der Natur, die Stimmen auf der Straße, den Lärm spielender Kinder. Und dort, wo der vom Hals abwärts gelähmte frühere Spitzenturner Ronny Ziesmer seit kurzem lebt, wird dieser Eindruck noch ein bisschen stärker. Er wohnt in einer kleine Seitenstraße in einem Dorf im Westerwald. Da gibt es keinen Supermarkt und keinen Bahnhof, nur eine kleine Kirche. Die Stille scheint hier das Leben zu verlangsamen, aber man kommt automatisch zur Ruhe und kann durch Ziesmers große Wohnzimmerfenster auf die schmutziggrünen Wiesen schauen und sich die Farben des Sommers vorstellen.

Die Rotation im Flug war zu langsam

Ziesmer überlegt und sagt, er möge das Wort "Schicksalsschlag" nicht, auch wenn es das wohl war, im Juli 2004. Nach einem verunglückten Trainingssprung war er ins Unfallkrankenhaus Berlin eingeliefert worden, herausgerissen aus den Olympiavorbereitungen. Die Rotation im Flug war zu langsam, Ziesmer war auf dem Kopf gelandet. Den entsetzten Angehörigen und Medienleuten erklärte Chefarzt Andreas Niedeggen ein paar Tage später, das Rückenmark sei zu stark verletzt, Ziesmer bleibe gelähmt, man könne ihm keine Hoffnung auf Heilung machen, sehr wohl aber "Hoffnung auf ein erfülltes Leben".

Ziesmer wurde eine Weile zum prominentesten Verunglückten im Sport, vielleicht in der deutschen Gesellschaft. Eine Welle der Hilfsbereitschaft baute sich auf, und sie brachte nicht nur Spendengelder. Ziesmer erreichte eine unüberschaubare Zahl von E-Mails aus aller Welt, in denen er aufgefordert wurde, nicht aufzugeben. Und in den unzähligen Zeitungsartikeln zu Ziesmer wurde überlegt, wie das aussehen könnte, das erfüllte Leben.

Bald trainierte er täglich

Zunächst mal war es ein neues Leben. Ziesmer sagte damals, er habe das alte hinter sich gelassen, noch ehe sie ihn ruhiggestellt und in den Rettungshubschrauber getragen hatten. In das neue stürzte er sich bald mit großer Energie. Er trainierte täglich, um den Rest an Nervenreflexen, der in seinen Armen steckte, zu erhalten. Ziesmer präsentierte sich den erstaunten Reportern bald aufrecht im Rollstuhl sitzend.

In regelmäßigem Abstand folgten Erfolgsmeldungen: Ziesmer aus Klinik entlassen, Ziesmer zu Gast im Fernsehen, Ziesmer lebt in eigener Wohnung, Ziesmer will studieren, Ziesmer sitzt im Handbike, kann mit Freunden ausgehen und ein volles Bierglas heben. Zwischendurch wurde es ruhiger um ihn, Fortschritte macht er aber weiterhin. Die neueste Meldung stammt aus dem Bundeskanzleramt, Ziesmer steht kurz davor, einen Traum wahrzumachen, der nicht nur mit der eigenen Beweglichkeit zu tun hat. Er will ein neuronales Forschungszentrum gründen.

Die Idee dazu hatte er ungefähr vor einem Jahr, und im Grunde lag darin auch ein Motiv für seinen Kampf um ein erfülltes Leben. Es war eine Art Geschäft, ein Geben und Nehmen. Ziesmer hatte von seiner Umwelt großartige Unterstützung erfahren, was er selber zurückgeben kann, ist die Wirkung seiner Popularität. Mit seinen vielen kleinen Fortschritten ist es ihm gelungen, im Gespräch zu bleiben, auch als die große Welle des Mitgefühls verebbte. Nun will er Sponsoren gewinnen für ein Projekt, das einen Millionenetat erfordert. Im CNR, dem Zentrum für neuronale Regeneration, sollen erstmals sämtliche Informationen über Forschungsprojekte zusammengeführt werden. Es gebe weltweit viele unseriöse Experimente, aber auch viele hoffnungsvolle Heilungsansätze, sagt Ziesmer. Was fehlt, ist der Überblick, die Verknüpfung seriöser Forschungsergebnisse: "Im Zusammentragen von Wissen steckt das Potential."

Der tägliche Kampf um ein erfülltes Leben

Zusammen mit Fachleuten, darunter der Düsseldorfer Neurologe Hans Werner Müller und der Wirtschaftsexperte Rüdiger Goll, will er so bald wie möglich das Zentrum gründen. Ziesmers Beitrag ist die Öffentlichkeitsarbeit. Er könnte Sponsoren gewinnen, und dafür wird es hilfreich sein, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Schirmherrschaft für Ziesmers Projekte übernommen hat. "Das Puzzle fügt sich langsam zusammen", sagt Ziesmer.

Turner Ronny Ziesmer: Vor dem Unfall: Ronny Ziesmer als erfolgreicher Turner, während der Weltmeisterschaften 2003 in Anaheim, USA.

Vor dem Unfall: Ronny Ziesmer als erfolgreicher Turner, während der Weltmeisterschaften 2003 in Anaheim, USA.

(Foto: Foto: AP)

Im Grunde ist ja sein ganzes Leben ein Puzzle, das im Juli 2004 kräftig durcheinander gewürfelt wurde und sich allmählich neu zusammensetzt. Nur hatte Ziesmer zunächst ein bisschen zu schnell am neuen Bild gebastelt. Er hatte Ende 2005 sein Biotechnologie-Studium begonnen und musste bald einsehen, dass er sehr oft müde und überfordert war: "Das war ein Fulltimejob, du kommst nach Hause und hast für nichts mehr Zeit." Ziesmer braucht aber Zeit, um seinen Alltag zu bewältigen: "Ich habe gemerkt, dass irgendetwas hinten runterfällt, denn leben will man ja auch noch." Der Alltag war eben auch schwierig, es gab Momente, in denen auch ein Held verzweifelt: "Diese Tage, an denen ich alles verfluche, an denen nichts funktioniert und ich nicht so schnell machen kann wie früher."

Ein Held will er nicht sein. Sein Ehrgeiz ist auch nicht viel größer als bei anderen. Seine für einen Tetraplegiker erstaunliche Beweglichkeit war auch möglich, weil seine Muskeln und Nerven besonders trainiert waren. "Wenn man die 18 Jahre Leistungssport dazu rechnet, dann habe ich viel getan, das stimmt", sagt er. Überhaupt, sagt er, es gebe eine Menge Menschen, die viel schlimmer dran sind, "die packen's halt nicht so schnell und müssen es doch schaffen, sich wieder mit etwas zu beschäftigen".

Die Kette von Erfolgsmeldungen reißt trotzdem nicht ab. Seit kurzem fährt Ziesmer Auto. Er sitzt am Steuer eines VW-Busses. Fest greifen wird er nicht mehr können, doch fürs Autofahren genügt die Bewegung der Arme. Er lenkt mit Hilfe einer Spezialkralle am Lenkrad, bremst und beschleunigt mit der rechten Hand. Er hat die Möglichkeit, mit seinem Handantrieb am Rollstuhl weite Strecken zurückzulegen, er hat eine eigene Wohnung, lebt selbständig mit seiner Freundin in einem ruhigen Dorf als angehender Stiftungsgründer und Student, und er kann Auto fahren, wann und wohin er will. Man kann sagen, er hat sein Leben wieder angefüllt, nur ist es das, was man mit "erfüllt" meint?

Ziesmer sagt, um in ein Auto einzusteigen, braucht man 20 Sekunden - ihn kostet es je nach Tagesform zwischen acht und zehn Minuten. Zehn Minuten, an die er sich immer noch gewöhnen muss, genauso wie er sich an die Zeit gewöhnen musste, die sein Spezialaufzug hinauf in den ersten Stock braucht, an die Zeit, bis seine Freundin abends nach Hause kommt, und an die Zeit, die er braucht, um sein Studium zu bewältigen.

Im Grunde unterscheidet er sich in diesem Aspekt kein bisschen von jedem anderen Menschen. Ein erfülltes Leben hat weniger mit vielen Tätigkeiten zu tun als mit Zeit. Mit der Fähigkeit, sie zu nutzen und sie sich zu nehmen. Die Zeit wirklich zu haben, egal ob man nun im Prüfungsstress steckt oder ob man an einem bleischweren, besonders langsamen Tag hinaus schaut auf die Herbstwiesen.

"Insgesamt", sagt Ziesmer, "habe ich ein erfülltes Leben." Er hat gebremst, er hat sich einen Sonderstudienplan genehmigen lassen, irgendwann im Frühjahr sind die ersten Prüfungen. Und das mit dem Leistungssport wird er sich noch eine Weile überlegen. "Handbikefahren ist anders als Kunstturnen", sagt Ziesmer, "der Vorteil ist, dass mit 30 nicht Schluss ist. Mit 40 oder 50 kann man das auch noch machen".

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