Turner Andreas Toba:Mehr als nur der Turner mit dem kaputten Knie

2016 Rio Olympics - Artistic Gymnastics - Preliminary - Men's Qualification

"Der Hype war übertrieben": Andreas Toba wurde nach seinem Olympia-Auftritt in Rio zum Helden erklärt.

(Foto: REUTERS)
  • Andreas Toba turnte bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio trotz gerissenen Kreuzbandes.
  • Danach wurde er trotzdem mit Preisen überhäuft, zum Helden erklärt.
  • Nun gibt er sein Comeback - und sagt: "Aber ich kann doch noch viel mehr."

Von Volker Kreisl

Er musste nur gut aufpassen. Konzentriert bleiben, bis zum Schluss. Die Betreuer sagten ihm: Hauptsache, du landest auf beiden Beinen! Dann passiert nichts. Natürlich nicht nur auf dem rechten, dem mit dem frischen Kreuzbandriss. Aber auch nicht instinktiv, um dieses zu entlasten, nur auf dem linken! Bloß nicht, sonst geht das auch noch kaputt! Also turnte Andreas Toba diese Übung am Pauschenpferd und landete zum Abschluss korrekt - exakt auf beiden Beinen.

Seine Teamgefährten sprangen sofort hinauf aufs Podest und halfen ihm, der verkrampft zu Boden starrte, hinunter. Dann saß er da, auf einer Bank in der Olympic-Arena von Rio, und war den Tränen nahe. Heute, ein Jahr später, weiß er noch, wie ihn diese Stunde und die folgenden Wochen überforderten. Alle jubelten über ihn, aber für ihn war Olympia vorbei. Er war stolz und traurig, und "der Hype war übertrieben", sagt er, wie auch der Beiname "Hero de Janeiro". Der korrekte und höfliche Turner Andreas Toba wollte nie ein Held sein. Nur, das kann man sich eben nicht aussuchen.

Auch in Stuttgart, wo er an diesem Samstag zur WM-Qualifikation auf die Turnbühne zurückkehrt, wird das Publikum tosen, wenn der Name Toba fällt, und zwar wegen Rio de Janeiro. Wer ein Held im Sport ist, das bestimmen immer noch andere: Medien, Publikum, Vermarkter, Zeitgeist und: der Moment. Es war der erste Olympiasamstag, die Spiele waren einen Tag alt, deutsche Siegergeschichten gab es noch keine, aber dann sprach sich unter den Reportern herum, dass da etwas Besseres passiert sei, dass man schnell in die Olympic-Arena fahren sollte.

Da habe sich ein Turner, Toba oder so, der aktuelle deutsche Mehrkampfmeister, beim Bodenturnen verletzt. Kreuzbandriss, Meniskusschaden, der könne heimfliegen. Aber der Typ sei der einzige im deutschen Team, der am Pauschenpferd weltklasse turne. Würde der also nicht ran gehen, wäre das ganze Team draußen. Also habe er sich trotz höllischer Schmerzen überwunden, und nur wegen ihm haben die Deutschen es am Ende ins Teamfinale geschafft.

Das stimmte alles so, nur das mit den Schmerzen nicht. In der Turner-Mixed-Zone, in der es nach einer Qualifikation noch nie so eng war, erklärte Toba, immer noch mit feuchten Augen, ja, da seien Schmerzen. Aber innerliche, weil sein Olympiatraum geplatzt war; er war schließlich in der Form seines Lebens. Im Knie hatte er keine Schmerzen, es war ja fest verbunden, das wackelige Schaumstoff-Gefühl war weg. Und heute stellt er noch mal klar, dass er auch keine Spritze bekam, was ihm manche später unterstellten. "Eine Ibuprofen 400 habe ich genommen", sagt er, "und zwar nach dem Wettkampf."

"Ans Aufhören habe ich nie gedacht", sagt Toba. Vielmehr daran, wie er noch besser wird

Andererseits: Wenn man bedenkt, wie extrem sich Turner während der 50 Sekunden einer Übung auf Elemente und Übergänge fokussieren, wie sehr Toba aus seiner psychischen Balance gerissen war und wie leicht man am Pferd von der Pausche rutschen und unkontrolliert landen kann, dann war diese Vorführung durchaus riskant und ein kleines bisschen heldenhaft.

Eine Woche verbrachte Toba noch in Rio, genauer gesagt im Athletendorf in Barra, weil: Wo will man schon hin, wenn man auf Krücken geht, die Wege weit sind und der Frust schwer wiegt? Lag es daran, oder lag es am nicht immer zuverlässigen Internetzugang im Dorf - jedenfalls bekam Toba nicht viel mit von dem Wirbel, der sich zu Hause gerade entfaltete. Gut, er bekam für seine Einträge in den sozialen Netzwerken plötzlich viel Zuspruch, 20 000 Nutzer klickten auf Gefällt mir, "aber Facebook-Zahlen", sagt Toba, "sind nicht fühlbar." Anders als Pressekonferenzen.

Wieder zu Hause, kurz vor der Operation, hatte man noch mal alle Anfragen in einer großen Runde gebündelt, und da saßen dann um die hundert Leute, sagt Toba, "fürs Turnen ist das brutal viel". Vor allem aber, und das ist für einen eher im familiären Sport-Umfeld mit Freunden, lokalen Ehrengästen und Auchdabeis auftretenden Turner wie Toba noch brutaler: "Das waren alles Reporter!" Toba war gerührt, er beantwortete noch mal alles zu Rio, dann verabschiedete er sich. Kurz danach wurde er operiert, und es begann die eigentliche Phase der Selbstüberwindung.

Kurz vor der Reha reißt der lädierte Meniskus

Zunächst verlief noch alles nach Plan, Kreuzband geflickt, Schwellung abgeklungen, behutsamer Wiederaufbau. Gleichzeitig kam Toba in den Genuss diverser öffentlicher Heldenwürdigungen, doch begann er auch immer mehr zu zweifeln, ob dieser Aufriss rechtens sei. "Gut, ich habe in Rio das Klischee widerlegt, dass Turner nur Ballerinas sind, die nichts vertragen, aber es ging mir nicht um mich".

Das Jahr ging zu Ende, Toba durfte im Fernsehen talken, genoss die "Wertschätzung", versuchte aber immer klarzumachen, dass er sich nicht auf einer Stufe mit denen sah, die tatsächlich Medaillen errungen hatten. Er gewann trotzdem den Vorbild-Preis bei der Sportlerwahl und war unter den Kandidaten für den Publikums-Bambi. Stolz war er, klar, aber auch etwas "peinlich berührt", wie er sagt, denn mit ihm standen lauter Medaillengewinner auf der Bühne, die meisten davon Olympiasieger, altgediente Sportler wie Turn-Kollege Fabian Hambüchen oder der Kanute Sebastian Brendel. Dennoch ging der Publikums-Bambi an Toba.

Im Herzen war der schon wieder in der Turnhalle, dem Ort, wo er sich am besten spürt. "Mich auszupowern, kaputt ins Bett zu gehen und am nächsten Tag von vorne anzufangen, Training für Training, darauf freue ich mich immer", sagt er. Der Januar kam, die Rehaphase stand bevor, aber dann riss der lädierte Meniskus doch, eine zweite Operation war unumgänglich. Toba nahm es hin, wartete die Heilung ab, baute geduldig Kraft auf, bekam erneut hartnäckige Schmerzen. Bakterien hatten sich in der Schleimhaut eingenistet, Anfang April wurde das Rio-Knie zum dritten Mal operiert.

Es gibt noch längere Leidensgeschichten im Sport, aber Toba ist Turner, und er war bei der zweiten Operation schon 26 Jahre alt. Da hat man nicht mehr die Zeit, um bei Gymnastik und Lymphdrainagen mal Abstand zu gewinnen und seine Berufung neu zu entdecken, da muss man die drei, vier letzten Jahre nutzen. "Ans Aufhören habe ich nie gedacht", sagt Toba. Vielmehr daran, wie er es hinkriegt, an seinen beiden Spezialgeräten, an Ringen und Pferd, schnellstmöglich gut zu werden. Denn die belasten die Beine kaum, da kann er sich ins Nationalteam zurückturnen. Nun scheint es ihm zu gelingen. In der zweiten Bundesliga hat er kürzlich eine anspruchsvolle Pferdübung gezeigt.

Alle Spitzensportler wollen irgendwann großartig sein, die meisten aber nicht durch die Gunst eines Augenblicks, oder wegen eines Zufalls, der einen zu einer spontanen Rettungstat zwingt, ohne groß zu überlegen. Athleten wollen im Hintergrund schuften, etwas aufbauen, nämlich Form, Nervenstärke und Technik - und sich auf großer Bühne dafür belohnen. "Man sagt mir, dass das in Rio ja eine Superleistung war", sagt Toba, "aber ich kann doch noch viel mehr."

Am Samstag ist es wieder so weit. Dann werden die Zuschauer in der Stuttgarter Scharr-Arena die Bilder von Rio de Janeiro im Kopf haben, und Andreas Toba wird versuchen zu beweisen, dass er mehr ist als ein Held.

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