Auch diese Medaille ist wie viele moderne Sporttrophäen zweckmäßig designt. Sie ist eher ein Ring, mit einem Henkel dran für das Halsband, und in ihrer Gestalt erinnert sie an eine Scheibe Ananas. Jedoch, diese Scheibe ist eine WM-Medaille, und sie glänzt und funkelt.
Sie hängt zu Hause im Zimmer der Turnerin Tabea Alt. Medaillen gibt es viele, sie erinnern, stärken, schmeicheln. Doch diese Bronzemedaille leuchtet besonders, ohne sie hätte Alt die vergangenen Jahre kaum durchgestanden. Diese Medaille, errungen am Schwebebalken bei der WM vor drei Jahren in Montreal, erinnert Tabea Alt jeden Morgen und jeden Abend: "Schau! So weit warst du schon!"
Im Oktober 2017 hatte Pauline Schäfer Gold gewonnen und Alt Bronze, und der deutsche Balken-Komplex war plötzlich überwunden. Das junge Team steuerte großen Zeiten entgegen, besonders die hoch veranlagte Alt. Zwei Wettkämpfe machte sie noch, dann kam Weihnachten, Alt verabschiedete sich in die Turnpause und kehrte bislang nicht zurück.
Am Anfang der Auszeit war nur ein Zwicken in der linken Schulter, dann folgte die rechte Schulter, und so ging es von oben nach unten durch ihren Körper, bis ihr Fall ein Beispiel wurde für die Risiken im Turnen, für Pech und auch für falschen Ehrgeiz im Sport. Aber eben auch für einen ungebrochenen Willen, weshalb sich das mit 20 Jahren wohl immer noch größte Talent im deutschen Frauenturnen nun mit aller Vorsicht darauf freut, vielleicht doch 2021 in Tokio bei Olympia dabei zu sein.
Sie musste erkennen: Das Problem liegt doch tiefer
Alts Körper verfügt über besondere Eigenschaften, eine davon ist die Fähigkeit, mit dem linken Bein genauso stark abzuspringen wie mit dem rechten. Somit kann sie zum Beispiel am Balken freie Räder und Salti direkt hintereinander hängen und aus einer leichten eine superschwere und wertvolle Übung kreieren. Zugleich aber belastet dies auch Schultern und Rücken, vor allem, wenn man zuvor stundenlang Wiederholungen üben muss. Harmlos noch war die erste Blessur, ein Knochenmarksödem in der linken Schulter. Schwieriger war die rechte Seite.
17 Jahre alt war sie damals, im Januar 2018, "da operiert man nicht gleich", sagt sie. Alt unterzog sich also allen möglichen Therapien: Magnetfeld-, Ultraschall-, Physio-, Strom- und so weiter. Am Ende war klar, es lag eben doch ein Überlastungssyndrom vor, "mit Flüssigkeit in der Schulter, mit Entzündungen und mit einer Bandruptur", wie Alt formuliert, womit nebenbei erkennbar wird, was diese lange Pause noch zusätzlich bewirkte: Sie will später mal Medizin studieren.
Um eine OP kam sie nun nicht herum, Alt war aber noch optimistisch, schließlich blieb noch viel Zeit bis zum nächsten Höhepunkt, der WM 2019 in ihrer Heimat in Stuttgart. Reha, Gymnastik, Stabilisierung folgten, dann stand sie endlich wieder auf der Matte, um sich zu belasten, und erkannte erstmals, dass ihr Problem tiefer liegt. Denn als die Schultern repariert waren, da machte der Rücken nicht mehr mit, "und das Theater ging von vorne los"; eher schlimmer, denn nun ließ sich für den Schmerz keine Ursache feststellen.
Es war der Tiefpunkt, eine aussichtslose Zeit, in der manche den Leistungssport als große leere Versprechung hinschmeißen würden. Hatte sie etwa wie einige andere ein großartiges Bewegungstalent, aber nicht den Körper dafür? "Ich war total niedergeschlagen", erzählt Alt, und ihre Einstellung änderte sich tatsächlich, allerdings wendete sie sich nicht ab, sondern fing an zu begreifen, heute weiß sie: "Ich habe durch die Verletzungen mehr über mich gelernt als durch alle Erfolge."
Der Körper ist kein Werkzeug, das sich beliebig belasten lässt, nur weil der Kopf imstande ist, Schmerzen zu ertragen. Alle ihre Verletzungen, sagt Alt, waren keine Schwachstellen. Sie haben vielmehr damit zu tun, dass sie in die typische Falle zu ehrgeiziger junger Turner getappt sei: "Junges Alter, hohe Belastung, schwere Elemente." Und weil diese Lektion bitter und lang ist, ging es nach der erfolgreichen Therapie des Rückens (man erkannte dann eine Instabilität der Lendenwirbelsäule, Folge: instabile Bandstruktur, Folge: Gelenkbelastung) gleich weiter mit dem linken Fuß.
Inzwischen war die WM in der Heimat ohne sie gelaufen, und das nächste Ziel Olympia hat sich wegen Corona verschoben, weshalb Alt diesen Ermüdungsbruch im Fuß, den sie noch aus den Tagen des Ehrgeizes unerkannt mit sich herumschleppte, in Ruhe operieren lassen und auskurieren konnte. Wobei, die Zeit hätte sich Alt mittlerweile ohnehin genommen, auch wenn es nie eine Corona-Pause gegeben hätte. Sie hat nun gelernt: "Bin ich nicht gesund, trete ich nicht an. Bin ich fit, ist vieles möglich." Vielleicht auch erst drei Jahre später bei den Olympischen Spielen Paris, vielleicht schon in Tokio.
Voraussetzung dafür dürfte sein, dass Muskeln und Nerven die alten Bewegungsabläufe wieder abrufen, wenn sie im Spätsommer wieder trainieren kann; dass sie die feine, kaum zu spürende Grenze der Überlastung nicht überschreitet; dass sie endlich auch Glück hat und wohl auch, dass sie weiterhin die Ananas-Scheibe an ihrer Zimmerwand im Auge behält.
Immerhin, glaubt Alt, habe sie in dieser Zeit auch in den Details viel gelernt: "Meinen Körper kenne ich jetzt genau", sagt sie. Schmerzen treten ja in ganz verschiedenen Nuancen auf, und sie könne diese nun scharf unterscheiden. Etwa das leichte und harmlose Ziehen eines belasteten Muskels vom leichten, aber giftigen Stechen einer aufkommenden Entzündung. Das hilft ihr für die weitere Karriere, und auch für danach, fürs Studium der Medizin.