Simone Biles:Eine Schraube zu viel

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„Ich weiß gar nicht richtig, wer ich bin als Mensch“ – Simone Biles sehnt sich nach dem Leben nach der Karriere. (Foto: Tom Weller/dpa)
  • Turnerin Simone Biles wollte bei den Sommerspielen in Tokio ihre glanzvolle Karriere beenden - zum Abschluss lockte eine Rekordbilanz.
  • Nun muss sie wegen der Coronakrise ihr Karriereende verschieben. "Noch ein Jahr mehr", sagt sie, "das ist sehr viel."
  • Die stets lächelnde Turnerin kommt gewaltig ins Grübeln.

Von Volker Kreisl, München

Auch Simone Biles sitzt nun zu Hause. Und plötzlich hat sie übermäßig viel von dem, was in ihrem Leben sonst eher knapp war: Zeit.

Sie könnte sich entspannen. Nach ihrem täglichen Heimtraining könnte sie sich zum Beispiel zurücklehnen und die Augen schließen. Und wenn sie diese wieder öffnet, dann könnte sie den Schwalben nachschauen, die vielleicht gerade über der Terrasse ihres Hauses in Spring/Texas vorbeifliegen. Aber das dürfte ihr schwerfallen: nur schauen, nichts tun. Denn: "Ich habe noch nie nichts gemacht", sagte sie der Tageszeitung USA Today, "in meinem ganzen, kompletten Leben."

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Die Turnerin Simone Biles war immer in Bewegung. Als Kind, das Salti auf dem Sofa schlug. Als Turntalent, das in der Luft immer neue Figuren probierte, als Weltmeisterin und Olympiasiegerin und als Bühnengast auf Vermarktungstouren. Und nun steuerte ihre aufreibende Karriere auf einen verheißungsvollen Höhepunkt zu, bei den Olympischen Spielen in Tokio im August wären fünf Goldmedaillen realistisch gewesen, zusätzlich zu den vieren, die sie schon hat. WM-Medaillen hat sie auch schon reichlich, 25 insgesamt, 19 davon aus Gold. Eine Rekordbilanz lockte also zum Karriere-Abschluss. Welcher Athlet könnte noch motivierter sein?

"Ich war voll motiviert", sagt Simone Biles, "noch für drei Monate."

Doch die Spiele sollen ja nun erst 2021 stattfinden, und Simone Biles beginnt auf einmal an ihrem Projekt zu zweifeln. "Noch ein Jahr mehr", sagt sie, "das ist sehr viel." Dabei wirkte sie in der Öffentlichkeit stets als nahezu unverwüstlich. Biles stand ihre Überschläge fast immer mit breitem Grinsen und gespreizten Fingern, alles wirkte leicht und spielerisch. Wie viel harte Arbeit tatsächlich dahintersteckte, das wurde erst jetzt deutlich, als sie gegenüber US-amerikanischen Medien zugab, wie fremd ihr diese Verlängerung bis 2021 vorkommt. Olympia ein Jahr später: Sie habe sich innerlich nicht gegen diesen Gedanken entschieden, sagt sie, "aber auch nicht explizit dafür."

Dass sie den Sinn der Quarantäne natürlich versteht, hat sie sofort betont, aber das hilft ihr jetzt auch nicht sonderlich, denn Biles ist offenbar kein Home-Office-Typ. Sie geht lieber raus zur Arbeit, also in ihr Gym, wo sie den ganzen Tag mit ihren Trainern Cecile und Laurent Landi und Turnkolleginnen schuften, tüfteln und plaudern kann. Heimtraining? Biles erzählte, wie ihre Schwester sie nun fragte, ob sie denn nicht auch ohne Turngeräte weiterkomme, mit Hanteln, oder so, "da hab' ich gesagt: Hast du mich je Hanteln stemmen gesehen?" Sie sei Turnerin: "Ich stemme meinen Körper!"

Der Home Frust hängt wohl damit zusammen, dass ein Olympiaprojekt wie das der Biles einen noch größeren Aufwand erfordert als in vielen anderen Sportarten. Turner mit Ambitionen an mehreren Geräten müssen im Jahr vor Olympia zunächst sechs Monate lang Kraft und Ausdauer aufbauen, ehe sie sich daran machen, die Elemente-Abfolgen so zu vervollständigen, dass diese beim großen Auftritt flüssig, hübsch und mühelos wirken. Dafür hat Biles im Grunde nicht nur ein, sondern vier Jahre Anlauf genommen.

In der Saison nach den Spielen 2016 nahm sich Biles eine Pause, baute danach zirka ein Jahr lang ihre Energie wieder auf und erarbeitete im dritten Jahr neue Erfindungen, Schraube-Salti-Kombinationen wie den Triple-Double am Boden und den Double-Double vom Schwebebalken. Das vierte Jahr sollte vor Olympia nun die Vollendung bringen, doch jetzt, sagt Biles, "bin ich erst mal runter vom Gas."

Dabei ist die Vollbremsung aus körperlicher Sicht wohl noch das kleinere Problem. Muskeln und Sehnen wieder zu stärken, das ist Biles gewohnt, weniger selbstverständlich ist der mentale Aspekt. Ein erheblicher Anteil ihrer Motivation bestand nämlich neben der Aussicht auf Medaillen und ewigen Ruhm auch in der Aussicht darauf, dass diese Plackerei in der Turnhalle in drei Monaten endlich vorbei sein würde. "Ich war voll motiviert", sagt Biles, "und zwar noch für drei Monate, danach wäre ich fertig gewesen."

Dennoch, kaum einer zweifelt daran, dass Biles dieses eine Jahr noch dranhängt. Ob sie sich ihre Form und ihre Überlegenheit erhalten kann, dürfte aber auch davon abhängen, ob sie den Wiederaufbau voll motiviert angeht, nicht etwa nur aus Pflichtgefühl, sondern weil es sie immer noch reizt, den eigenen Körper zu stemmen und mit ihm Figuren in die Luft zu malen. Das ist nicht selbstverständlich, denn da sind noch andere Hindernisse.

Auch Biles war eines der Missbrauchsopfer des Teamarztes Larry Nassar, für dessen Taten über Jahrzehnte hinweg auch ihr Verband USAG mitverantwortlich war, weil er eindeutigen Hinweisen nicht nachging und die Turnerinnen nicht schützte. Es wird Biles also Überwindung kosten, diese Verbindung noch ein Jahr zu dulden. Nicht zu unterschätzen ist ferner das allgemeine Verletzungsrisiko, auch Biles hat mit Verschleißerscheinungen nach sieben Jahren auf höchsten Niveau zu tun.

Und schließlich muss sie nun auch diese Heimtrainingsphase hinter sich bringen, in der sie auf sich zurückgeworfen ist und offenbar hin- und hergerissen von gebremster Unternehmungslust und tiefen, auch trüben Gedanken. Einerseits ist da die spielerische, kreative Biles, die sich mit einem Homevideo offenbar in einen Wettkampf einschaltete, bei dem es darum ging, im Handstand und an die Wand gelehnt, sich eines T-Shirts zu entledigen. Biles entwickelte, wie das so ihre Art ist, die Übung fort: Sie spaziert kopfüber ins Wohnzimmer, wobei ihre Füße eine Jogginghose nach oben abstreifen, frei stützend auf den Händen.

Andererseits ist da auch die grübelnde Biles. Die sich in diesen Tagen fragt, was sie eigentlich so tut. Die immer nur geturnt hat, von klein auf, zu Hause auf dem Sofa und im Gym. Die sich ein kleines Reich geschaffen hat und wohl auch als Jahrhundertsportlerin in Erinnerung bleiben wird, selbst wenn sie in Tokio 2021 nur zwei oder drei Goldmedaillen gewinnt. Die als Athletin immer funktioniert hat, und sich in diesen Tagen aber fragt: "Ich weiß gar nicht richtig, wer ich bin - als Mensch."

Das herauszufinden, gelingt wohl erst nach Tokio.

© SZ vom 17.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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