Süddeutsche Zeitung

Turnen:Wohlfühlen, jetzt auch für Frauen

Die deutschen Turnerinnen setzen bei der EM mit langen Anzügen ein Zeichen für Selbstbestimmung und machen klar: "Es geht uns nicht darum, dass wir sagen, es soll sich jetzt jede Turnerin bedecken."

Von Saskia Aleythe

Das Klicken der Kameras war diesmal kein Problem. Sarah Voss hat sich ohnehin daran gewöhnt, die 21-Jährige turnt schon seit ein paar Jahren auf internationalem Niveau, doch dieser EM-Auftakt in Basel, er war doch etwas ganz Besonderes. Für sie, aber auch für das Turnen insgesamt. Als Voss am Mittwoch in der Qualifikation antrat, über den Schwebebalken im langen Ganzkörperanzug turnte, da wusste sie: Diesmal muss sie keine Angst haben, dass ihre Kleidung verrutscht und Fotos entstehen, die eigentlich kein Sportler von sich später irgendwo sehen will. Und sie wusste: Jetzt setzt sie ein Zeichen.

Es ist nicht nur Voss, es sind auch ihre Kolleginnen Elisabeth Seitz und Kim Bui, die mit einer Mission zu dieser EM gereist sind. Nicht als "Taskforce Langbein", sondern mit dem Wunsch zur Selbstbestimmung. "Es geht uns nicht darum, dass wir sagen, es soll sich jetzt jede Turnerin bedecken und nicht mehr die Haut zeigen", sagt Seitz, sie selber war am Mittwoch wie Bui noch im gewohnten Dress zu sehen, beim Mehrkampf-Finale am Freitag wollen auch sie mit den neuen Anzügen auftreten. Seitz, WM-Zweite 2018 am Stufenbarren, sagt: "Uns geht es als Team darum, zu zeigen: Hey, ihr könnt anziehen, was ihr möchtet, aber die Sportart bleibt trotzdem gleich toll, und jetzt könnt ihr euch auch noch wohler fühlen."

Anmut hat nichts mit dem Beinausschnitt zu tun, doch seit jeher wird im Turnen die alte Tradition fortgeführt: Die Frauen springen im kurzen Turnanzug über die Geräte, bei dem nur ein schmales Stück Stoff im Schritt das Nötigste bedeckt. "Man bewegt sich sehr viel und fühlt sich nicht immer 100 Prozent wohl", sagte Voss am Mittwoch. Seitz hatte zuletzt im SWR über die unangenehmen Begleiterscheinungen berichtet, wenn der Stoff verrutscht und die Kameras klicken. "Die Leute müssen verstehen, dass schönes Turnen nicht bedeutet, dass man etwas besonders geil findet." Im Internet finde sie regelmäßig Bilder, "die mir überhaupt nicht gefallen, eben weil mir in den Schritt fotografiert wurde". Nun geht sie zusammen mit ihren Kolleginnen als Botschafterin in die Geschichte ihres Sports ein: Sie möchten für viele jüngere Athletinnen - ausdrücklich auch im Breitensport - ein Vorbild sein. Es geht um Freiheit in einer Angelegenheit, die längst selbstverständlich sein könnte.

"Viele wissen gar nicht, dass wir lang turnen dürfen"

Das Wettkampf-Reglement im Turnen erlaubt schon seit Längerem das Tragen von langen, eng anliegenden Hosen unter den üblichen Anzügen beziehungsweise Ganzkörperanzüge, nur wurden bisher die wenigsten Sportlerinnen dazu ermutigt, ihr Körpergefühl über alles zu stellen. Es ist eine vielschichtige Angelegenheit. "Viele wissen gar nicht, dass wir lang turnen dürfen", sagt Bundestrainerin Ulla Koch, "niemand sollte gezwungen werden, sich in einer Sportart aufgrund der Bekleidung unwohl zu fühlen." Dieses "Gezwungen fühlen" gibt schon Hinweise, wie tief die Kultur der knappen Kluft verankert ist. "Was immer so gemacht wurde, ist halt einfach so", sagt Turnerin Seitz, "da wollten wir ein bisschen ausbrechen und sagen: Nur weil es schon immer so war, muss es nicht immer so bleiben."

Geprägt ist die Kleiderwahl oft auch von anderen Bedenken. Sei es, dass sich mancher Kampfrichter - wenn auch nur unbewusst - dazu verleiten lassen könnte, ob des ungewohnten Anblicks schlechter zu bewerten. Oder, als einzige "Rebellin im langen Anzug" zu sehr in den Fokus zu geraten, obwohl man eigentlich nur seine Leidenschaft am Schwebebalken oder Stufenbarren ausleben möchte. Normen zu durchbrechen ist manchmal schwieriger als der Protest gegen Verbote. Und einer muss immer den Anfang machen. "Es ist wichtig, den ersten Schritt zu gehen", sagt Seitz, "das ist oft der wichtigste." Einzelne Turnerinnen mit bedeckten Beinen sind laut Trainerin Koch schon bei anderen Wettkämpfen aufgetaucht, doch die Aktion der Deutschen steht für einen bisher einmaligen Aufbruch.

Die Idee zu den Anzügen kam der Mannschaft im vergangenen Sommer, nachdem eine Sportlerin zu Koch gekommen war und ihr gesagt hatte, dass sie sich in den üblichen Outfits nackt fühle. "Mir ist es wichtig, dass die Athletinnen selbstbewusst entscheiden können, in welchem Outfit sie sich wohlfühlen und ihre Übungen präsentieren", sagt Koch. Im Zuge der Missbrauchsskandale ist man im Turnen für das Thema zunehmend sensibilisiert. 2019 beschäftigte sich der Deutsche Turner-Bund im Forum Chancengleichheit bereits mit der Wettkampfkleidung, als es um die Prävention sexualisierter Gewalt ging.

Die ersten Reaktionen seien positiv ausgefallen

In puncto Bewegungsfreiheit turnt es sich auch im langen Gewand nicht anders als sonst, berichtet Elisabeth Seitz, im Training würden sie ohnehin nie nur im Turnanzug ihre Übungen absolvieren, sondern stets auch mit Hose. "Der einzige Unterschied ist", sagt die 27-Jährige, "dass wir noch nie das Gefühl hatten, so etwas Gemütliches anzuhaben wie im Training."

Für das Design waren die Sportlerinnen maßgeblich selbst verantwortlich, eine Schneiderin hat die Entwürfe dann umgesetzt. "Ich bin stolz, dass ich heute den Anzug tragen darf", sagte Sarah Voss am Mittwoch, "ich fühle mich super wohl, das ist super bequem. Ich finde, es sieht cool aus." Die ersten Reaktionen darauf seien positiv ausgefallen, von den üblichen negativen Kommentaren im Netz abgesehen. Der erste Anstoß ist nun gegeben, findet Voss, "wir freuen uns, wenn andere die Innovation aufgreifen und wir einen Trend gesetzt haben". Sie sind vorangegangen, und so viel ist klar: Das kann ihnen keiner mehr nehmen.

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