Süddeutsche Zeitung

Olympia:Diesmal ist's kompliziert für Deutschlands Turner

Nach einer Dekade großer Erfolge bieten sich dem deutschen Turn-Team in Tokio nur wenige Medaillenchancen. Umso wichtiger ist nun eine andere Botschaft, die es senden will.

Von Volker Kreisl, Tokio

Die Frage nach den Zielen zählt zu den Klassikern bei Sport-Medienrunden. Die aktuelle Form der Athleten ist ja meistens kein Geheimnis, Träume, Hoffnungen und reale Ziele sind es eigentlich auch nicht. Und doch barg kürzlich der Wunsch eines Kollegen eine Herausforderung. Er bemerkte gegen Ende der Olympia-Presserunde mit den bereits nach Japan gereisten und zugeschalteten Turnteams, als alle mit dem Meeting fast schon abgeschlossen hatten: "Bleibt nur noch die Frage nach den Zielen."

Der Mehrkampf sei doch mindestens ein Ziel, worauf er ein klares Ja zur Antwort bekam, einer und eine sollten das mindestens schaffen. Dann aber folgte erstmal Schweigen - bestanden denn keine weiteren Ziele, keine Medaillenwünsche? Klar stecken die auch weiter in den Köpfen und den Herzen der Turner, aber diesmal ist eben alles etwas komplizierter im einst so erfolgreichen Turnteam Deutschland.

Nach einigem Zögern formulierten die Cheftrainer Ulla Koch und Valeri Belenki doch noch je eine Hoffnung auf eine Einzelmedaille bei Männern und Frauen, worauf der Unterhachinger Lukas Dauser, der wohl die Männermedaille am Barren holen könnte, nachschob, er mache sich gar keine Gedanken mehr über eine Medaille: "Ich versuche, meine Übung zu turnen, nicht an eine Prognose zu denken, auch das habe ich in den letzten Jahren gelernt."

Das war kein taktisches Geziere, sondern es klang nach voller Überzeugung, die auch auf der Einsicht gründete, dass man jedes einzelne Detail seiner Übung perfekt ausführen sollte und dann noch auf Punktrichter und eventuelle Fehler der Konkurrenz hoffen muss. Denn die deutschen Riegen agieren nicht mehr in der ersten Reihe. Obwohl Dauser neulich bei der EM Bronze am Barren gewann und sein Teamkollege Andreas Toba Silber am Reck, dürfte für die größere deutsche Sportöffentlichkeit endgültig mit diesen Spielen klar werden, dass die großen Zeiten erstmal vorbei sind.

Man soll nie zurückschauen im Sport, sondern immer nach vorne. Es ist also für diese Spiele unsinnig, daran zu erinnern, wie weit es die Riege geschafft hatte, auch noch am Ende der Ära. Wie etwa Fabian Hambüchen 2016 in Rio de Janeiro eine großartige Reckübung nahezu makellos um die Querstange herum zauberte und dann noch in den Stand setzte (in den Eimer, wie Turner sagen), aber plötzlich kräftig mit den Armen rudern musste, wobei die Zeit für einen Moment stillstand, denn wäre er hingefallen, wäre alle Arbeit für diesen letzten Höhepunkt seiner Karriere in Rio umsonst gewesen.

So aber wurde er Olympiasieger, dazu holte Sophie Scheder Bronze am Stufenbarren. Und wenn man sich schon von den Gedanken treiben lässt, so wird man sich erinnern, wie alles in Rio begann, wie Andreas Toba damals den Titel ,Hero de Janeiro' verpasst bekam, weil er mit einem soeben erlittenen Kreuzbandriss am Pferd noch die entscheidenden Punkte sicherte in der Qualifikation für den Wettkampf, den er dann nicht mehr turnen konnte, das Teamfinale ...

Ein Platz im Teamfinale wird schwer zu erreichen sein für beide deutsche Mannschaften der Gegenwart. Denn Olympia ist eine andere Nummer als eine Europameisterschaft. Japans Auswahl ist trotz des Ausfalls zweier wesentlicher Stützen immer noch eine der stärksten Riegen.

Die Erwartungen sind groß, wenngleich der wohl größte Turner der Gegenwart, Kohei Uchimura, nach vielen Verletzungen nur an seinem Spezialgerät, dem Reck, eingesetzt wird. Chinesen, Russen und auch die US-Mannschaften, insbesondere die der Frauen mit Simone Biles, werden Höchstleistungen zeigen. Und doch ist es nicht so, dass der Deutsche Turnerbund hier keine Ziele hat.

Vielleicht entstehen aus der Pandemie-Generation ja besonders fähige und empathische Übungsleiter

Die Pandemie hat auch im Turntraining manches verändert. Weil Wettkämpfe fehlten, rückten wie in vielen Milieus auch die Turner zusammen. Fünf statt vier Jahre Olympiavorbereitung habe eine andere Qualität in die Übungen gebracht, berichtet Dauser, nämlich mehr Gelassenheit.

Früher habe man nach einem schlechten Tag schnell an sich gezweifelt, diesmal könne man Probleme in Ruhe einschätzen, denn: "Alles ist ein Lernprozess." Und der Frauen-Trainerin Koch fiel bei der Olympiavorbereitung der Männer etwas völlig Neues auf. Die hätten wegen der reduzierten Betreuergruppe Trainingsvideos gegenseitig selber vorgeschlagen, organisiert und dann das Ergebnis, etwa Haltungsfehler oder technische Schwächen, untereinander diskutiert, als wären sie selbst schon Trainer.

Diese braucht der Verband irgendwann auch wieder, wenn es darum geht, die nächsten Talente zu motivieren. Turnen ist besonders übungsintensiv, weshalb schon immer die Aktiven von heute später als Coaches gute Arbeit leisteten. Und vielleicht entstehen aus der Pandemie-Generation ja besonders fähige und empathische Übungsleiter. Zunächst jedoch ist der DTB darauf angewiesen, dass bei diesen Spielen in Tokio seine aktiven Vertreter Präsenz zeigen. Dass sie nach außen demonstrieren, dass es in diesem Sport trotz einer Phase nur mittleren Erfolges weitergeht.

Denn Medaillenchancen bestehen durchaus (die Qualifikationen der Turner und Turnerinnen finden am Samstag und Sonntag statt). Neben Dauser, dessen Barrenübung mit einer Höchstnote von 6,8 Topniveau hat, turnt ja immer noch die Stuttgarterin Elisabeth Seitz an ihrem Parade-Gerät vorne mit.

Das ist der Stufenbarren, und an dem hat sie schon manche Erfolge erzielt, wie die Vergangenheit gezeigt hat; jeweils Bronze bei WM und EM hat sie gewonnen, hat sich an einem schweren Element, dem Def-Salto an der höheren Stange, auch mal einen Zahn am Holm ausgeschlagen und irgendwann den Def wieder aus dem Programm genommen. Den Stufenbarren aber liebte sie weiterhin, und ihre Übung ist immer noch medaillenfähig. Wie schon damals 2016, lange her, als Seitz hinter ihrer Teamkollegin Scheder knapp Vierte wurde und seitdem immer noch ein Ziel hat.

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