Turnen:In Schallweite des Sturms

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Auf dem Weg nach oben: Turnerin Helen Kevric aus Stuttgart. (Foto: Marijan Murat/dpa)

Helen Kevric hat eine große Etappe in ihrer Karriere gemeistert. Im Mehrkampf überzeugt die erst 16-jährige Kunstturnerin im Sog der überragenden Simone Biles.

Von Volker Kreisl, Paris

Wieder dieser stoßartige Applaus. Wenn das Publikum in der großen Halle der Bercy Arena verzückt wird, dann kann das schwierig werden. Dann wird es nicht nur laut, sondern schrill. Der Sturm des Applauses geht einem durch Mark und Bein, denn in diesem Fall ist es der Sturm, den das Turnidol Simone Biles entfacht.

Die braucht nur zum nächsten Gerät angekündigt werden, schon klirren die Ohren. Für die Konkurrentinnen ist das weniger ein Problem, sie sind das gewohnt. Jede von ihnen hat bereits diese Situationen durchlebt. Jede? Nun, die deutsche Turnerin Helen Kevric ist erstmals bei den Olympischen Spielen dabei, da braucht es noch Gewöhnung, vor allem, wenn der Biles-Sturm gleich auf dem Gerät nebenan losgeht.

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Doch Kevric ist auch schon manches gewohnt. Sie ist zwar noch keine große Meisterin, aber sie ist ja auch erst 16 Jahre alt. Und dafür hat sie bereits einige Erfolge eingefahren, unter anderem Platz sechs bei der Turn-Europameisterschaft 2024 in Rimini und zuvor schon bei der Junioren-EM in München, wo sie ihr Talent erstmals einem größeren Publikum präsentierte.

Sie war also schon einiges gewohnt, als sie nun in Paris beim Mehrkampf ans erste Gerät ging und in Schallweite am Nebengerät Simone Biles gleichzeitig loslegte. Denn Kevric hatte sich ja schon länger befreit von ihrem Respekt gegenüber den großen Turnerinnen, sie hatte sich vor Paris in einem Extra-Wettkampf gegen die routinierte und immer noch hochklassige Elisabeth Seitz durchgesetzt. Kevric, die eher introvertiert ist, war das ganz recht: „Dadurch, dass Eli so im Fokus stand, waren die Augen nicht so auf mich gerichtet. Zumindest habe ich mir das so gesagt.“

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Nun hat sie mit ihren 16 Jahren auch einen erheblichen Sprung, nicht am Sprungtisch, sondern in der Karriere, geschafft. Kevric hat eine erste wichtige Etappe genommen. Einen Erfolg, der zwar nicht mit Medaillen versehen wird, mit dem sie nicht nur das deutsche Publikum erstaunt, sondern auch andere wichtige Teilnehmer des Turnens aufschauen lässt, etwa die Referees. Die haben jetzt einen deutlicheren Eindruck von dieser jungen Deutschen mit ihrem Gesamtergebnis, mit Platz acht. Das war direkt hinter den weiteren Größen, zu denen neben Siegerin Biles auch die zweitplatzierte Brasilianerin Rebeca Andrade und Sunisa Lee (USA) zählten.

16-jährige Turnerinnen, die Olympiafinals erreichen, sind anders als ihre gewöhnlichen Altersgenossinnen. Sie müssen fokussierter sein, müssen sich verstellen und Gewohnheiten entwickeln, wie sie den schweren Trainingsalltag, zudem die Medienarbeit bewältigen. Auch die junge Kevric muss wohl nicht mehr beschützt werden, denn sie ist wie alle Spitzenturnerinnen auch eine Schauspielerin, sie kann sich selbst beschützen.

„Ich mache mir keine Gedanken darüber, wo ich landen möchte.“

Und sie kann sich tadellos selbst reflektieren, ähnlich gut, wie sie auch das Turnen beherrscht. Sie gibt indirekt zu, dass sie Ängste hat vor dem Publikum und auch vor dem Versagen bei ihren Übungen. Andere junge Turnerinnen träumen von einem Titel oder wenigstens einem Platz auf dem Podium, Kevric will davon vorab eher nichts wissen. Sie hat sich eigene Leitsätze zurechtgelegt, etwa: „Ich mache mir keine Gedanken darüber, wo ich landen möchte.“ – Oder während des Turnens: „Ich will nicht so oft in ins Publikum schauen.“ Und sobald sie ans Gerät geht, erinnert sie sich daran, dass sie das gut kann, „mich auf meine Sache konzentrieren“.

Kevric hat also bei diesem Mehrkampf schon Sprung, Schwebebalken und Boden für ihr Alter tadellos hinter sich gebracht, bis nur noch ihr Paradegerät dazukam, der Stufenbarren. Dort hat sie einige Höchstschwierigkeiten eingebaut. An diesem Gerät hat sie sich auch fürs Einzelfinale qualifiziert, in dem sie wegen der hochkarätigen Ausgangswerte der Konkurrenz wohl keine Medaillenchance hat.

Indes, Kevrics Karriere nimmt ja auch gerade erst Fahrt auf, eine 16-Jährige darf sich noch in der Zwischenwelt aus Spaß, Staunen und Überraschung bewegen. Und einer dieser Freuden ist es gerade eben, sich mit „so großen Turnerinnen“ zu messen, sagte sie später.

Dann schaltete sie vom Groupie wieder um auf die ernsthafte Turnerin. Eigentlich, sagte sie, „bin ich im Wettkampf innerlich trotzdem nervös. Ich sehe immer sehr gelassen aus, auch wenn ich spreche, aber natürlich bin ich trotzdem nervös.“ Ihre letzte Station bei diesem Mehrkampf bewältigte sie tadellos. An ihrem Lieblingsgerät, während manche Zuschauer in der Halle im Stadtteil Bercy sich fragten, wer diese Turnerin da unten am Stufenbarren denn ist, der vielleicht die Zukunft gehört.

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