Süddeutsche Zeitung

Turnen:Nguyen zähmt das Pferd

Marcel Nguyen gelingt beim DTB-Pokal ein Wettkampf, der phasenweise an seine erfolgreichste Zeit erinnert. Anders als früher muss er alle Geräte beherrschen. Nur dann hat er eine Chance auf die Olympischen Spiele.

Von Volker Kreisl, Stuttgart

Große Sporthallen, möchte man meinen, gleichen sich doch überall. Sie haben eine hohe Decke, an der Lichtstrahler befestigt sind, die das Parkett darunter beleuchten. Ringsum sitzt Publikum, das bei Fehlern aufstöhnt und bei Siegen jubelt, und je nachdem steht man als Turner hinterher auf einem Podest oder ist schon auf dem Weg nach Hause.

Die Begebenheiten im Wettkampf gleichen sich also, egal ob in Montreal oder Moskau oder Shanghai - und dennoch turnen gerade viele internationale Topathleten in der Stuttgarter Porsche-Arena, weil sie beim DTB-Pokal, einem Weltcup, der hier immer im Frühjahr stattfindet, schon mal die Wettkampfatmosphäre im süddeutschen Turnzentrum testen. Denn dort und in der Schleyer-Halle gleich nebenan finden im Oktober die Weltmeisterschaften statt, die zugleich die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Tokio 2020 darstellen.

Turner sind eben sensible Menschen, sie wollen wissen, wie die Laufwege vom Hotel zur Halle sind, wie sich die Geräte dort anfühlen, wie laut das Publikum schreit, wie das Essen schmeckt, und deshalb hat sich zum Beispiel auch die US-Amerikanerin Simone Biles dazu entschlossen, an diesem Wochenende in Stuttgart zu turnen. Biles, 21, ist viermalige Olympiasiegerin und 14malige Weltmeisterin, also die derzeit unerreichte Athletin ihres Sports. "Der Start hier ermöglicht mir, den WM-Standort kennenzulernen" sagt sie. Ebenso denkt die russische Stufenbarren-Olympiasiegerin von Rio, Aliya Mustafina, die wie Biles am Sonntag im Mehrkampf an den Start geht, außerdem der russische Mehrkampfweltmeister von 2018, Artur Dalaloyan, der bereits am Samstag dran war, und erwartungsgemäß gewann.

Die einen testen in Stuttgart also gerade das Flair, die anderen vor allem ihre Form im zweiten Teil ihrer Karriere. Marcel Nguyen, 31, der zweimalige Silbergewinner bei den Olympischen Spielen 2012, muss Stuttgarts Laufwege nicht mehr erklärt bekommen, der Unterhachinger trainiert hier seit über zehn Jahren. Spannend war der Samstag dennoch für den ältesten Turner im Team von Bundestrainer Andreas Hirsch. Denn für die Männer-Nationalmannschaft stellt die Olympia-Qualifikation im Oktober eine beachtliche Hürde dar. Zum Überspringen ist Nguyens Beitrag unerlässlich, und dieser Tag zeigte, dass mit ihm zu rechnen ist.

"Die beste Pferdübung, die ich je von ihm gesehen habe", sagt Trainer Belenki

Vierter wurde Nguyen, er erlebte dabei aber einen Sechskampf, der phasenweise an die Zeit seiner Medaillenerfolge erinnerte. Grinsend trat er nach getaner Arbeit sechsmal vom Podest ab, klatschte seinerseits ins entzückte Publikum zurück und hopste zum nächsten Gerät. Zum großen Wurf reicht es zwar nur noch am Barren, aber die Basis für einen soliden Mehrkampf hat er sich überraschenderweise wieder angeeignet, und das könnte bei der WM die entscheidenden Punkte fürs Team geben. Fast überall holte er sich dabei die Bestätigung: Er kann es noch. "Es ist bewundernswert, wie er sich noch einmal dieser Aufgabe stellt", sagt Hirsch.

Nguyens schwerste Aufgabe, bei ihm so beliebt wie für viele Schüler eine Latein-Klausur, ist das Pauschenpferd. Regelmäßig klappten ihm einst bei den Rotationen die Beine auseinander, der Körper verlor die Spannung und eierte mit Ach und Krach um die Pauschen. Diesmal aber bewahrte Nguyen die Haltung, auch die Handstände gelangen, und am Ende bekam er eine Note von 13,066, und, noch besser, ein Sonderlob vom Lehrer: "Das war die beste Pferdübung, die ich je von ihm gesehen habe", sagte sein Trainer Valeri Belenki, selber einst Pferd-Weltmeister.

Viele Jahre lang hatte sich Nguyen auf seine Lieblingsgeräte konzentriert, heute sagt er, wie jeder ältere Turner würde er sich auch lieber weiter spezialisieren, aber was hilft's: Die neuen Wettkampfbestimmungen gestatten fast keine Streichergebnisse mehr. Ausrutscher entscheiden womöglich schon über alles, jeder Team-Turner muss also alle Geräte gut beherrschen und an seinem schwächsten Gerät zumindest solide auftreten. Spezialisten braucht der Bundestrainer nicht mehr, weshalb Nguyen sagt: "Nur über den Mehrkampf komm' ich nach Tokio."

Im Stuttgarter Turnzentrum, das die zehn Jahre jüngere Welt-Elite gerade kennenlernt, hatte Nguyen 2007 schon mit dem Team WM-Bronze gewonnen, damals bestand sein Beitrag hauptsächlich aus erfolgreichen Barren-, Ringe- und Bodendarbietungen. Aber auch die, das hat dieser Samstag gezeigt, beherrscht Marcel Nguyen immer noch.

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Quelle:
SZ vom 17.03.2019
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