Süddeutsche Zeitung

Turner Marcel Nguyen hört auf:"Wie eine Kristallvase"

Marcel Nguyen, begnadeter Turner und zweifacher olympischer Silbermedaillengewinner, beendet nach vielen schweren Verletzungen seine sportliche Karriere. Künftig arbeitet er in der Kosmetikbranche.

Von Stefan Galler

Tausende Fans, die am Flughafen warten, kreischende Mädchen, Blitzlichtgewitter: Als Marcel Nguyen vor dem Jahreswechsel 2012/13 bei einer Reise in Hongkong ankam, dürfte er sich wie ein Popstar gefühlt haben. Spätestens jetzt sollte er realisiert haben, dass ihm etwas Besonderes gelungen war bei den Olympischen Spielen knapp fünf Monate zuvor in London. Dort hatte der Turner zwei Silbermedaillen gewonnen, eine an seinem Spezialgerät Barren, eine im Mehrkampf. Und das sorgte nicht nur im Fernen Osten für Begeisterung, sondern auch hierzulande: Im Einzel-Mehrkampf hatten männliche deutsche Turner vor ihm zuletzt 1936 in Berlin Medaillen geholt.

So hat es nicht überrascht, dass Marcel Nguyen, 35, jetzt im Moment seines Abschieds die Spiele von London als seinen größten sportlichen Erfolg gewertet hat, nicht zuletzt auch wegen der enormen Popularität in Asien, die er als Sohn einer Münchnerin und eines Vietnamesen dadurch erlangte. Am Mittwoch hat Nguyen nun sein großes Ziel, Olympia in Paris 2024, ad acta gelegt und das sofortige Karriereende bekanntgegeben: "Der Körper hat nicht mehr mitgemacht, ich bin an einem Punkt angelangt, wo ich sagen muss, dass es keinen Sinn mehr macht", sagte er bei einem Pressetermin in Fellbach, nahe seiner Wahlheimat Stuttgart.

"Einer wie Marcel kommt vielleicht alle 200, 300 Jahre auf die Welt"

Er habe "zwar noch mal alles versucht, alles hinten angestellt und mit verschiedenen Physiotherapeuten zusammengearbeitet". Letztlich aber seien die körperlichen Beeinträchtigungen nach zwei Kreuzbandrissen, einer Schulteroperation und der schweren Handgelenksverletzung, die ihn 2022 die Teilnahme an der Europameisterschaft in München kostete, zu gravierend: "Ich stand zuletzt morgens beim Training und habe erstmal überlegen müssen, welches Gerät ich überhaupt machen kann. So macht es keinen Spaß mehr."

Welche Ausnahmestellung das 1,65 Meter große Muskelpaket im Turnsport einnimmt, verdeutlichte Waleri Belenki, der Nguyen seit seinem Wechsel von Bayern zum Schwäbischen Turnerbund trainierte: "Einer wie Marcel kommt vielleicht alle 200, 300 Jahre auf die Welt. Er hat einen passenden Körper, ist spritzig, kräftig, nimmt nicht zu und orientiert sich gut in der Luft." Auf eine weitere Silbermedaille im Mehrkampf werde Deutschland "noch lange warten" müssen. Und doch sei Nguyens fragiler Körper stets ein Handicap gewesen, so Belenki: "Er war für mich wie eine Kristallvase, man musste ihn vorsichtig zum Erfolg tragen."

Beim TSV Unterhaching, der mittlerweile in Lukas Dauser einen weiteren Weltklasseturner hervorgebracht hat, begann Nguyen bereits als kleines Kind mit seiner Sportart, trainierte später am Landesstützpunkt unter Kurt Szillier. Kurz nach dem Abitur gewann er unter anderem mit Fabian Hambüchen und Philipp Boy WM-Bronze im Mannschaftsmehrkampf 2007 in Stuttgart, zog zwei Jahre später dorthin und turnte fortan für den schwäbischen Bundesligisten KTV Straubenhardt. Es folgten sieben EM-Medaillen, davon drei goldene und 24 deutsche Meistertitel, darunter alleine acht am Barren.

Künftig führt Nguyen ein Haarentfernungsstudio in München

Mit vielen seiner Turnkollegen, aber auch mit Trainer Belenki verband ihn eine enge Freundschaft, wie der Coach am Mittwoch in Stuttgart betonte. Nur einmal wurde diese auf eine harte Probe gestellt: nämlich als sich Nguyen eine großflächige Tätowierung quer über die Brust stechen ließ. Der Coach fürchtete schlechtere Bewertungen durch die Punkterichter. "Drei Monate habe ich versucht, ihn davon abzubringen. Bis er eines Tages gesagt hat: Heute ist der Termin." Um Belenki zu beruhigen, überschminkte Nguyen das Tattoo bei den ersten Wettkämpfen, auch bei den Spielen in London.

Apropos Kosmetik: Ein neues Berufsfeld hat der erfolgreiche Athlet auch bereits gefunden, seit rund sieben Wochen führt er ein Haarentfernungsstudio in München. "Ich hatte Lust, etwas völlig Neues zu machen", sagte er; es laufe bisher "sogar besser, als ich es mir vorgestellt habe." Eine Trainerlaufbahn komme derzeit auch wegen seiner Handgelenksprobleme nicht infrage. Doch mit seinem Sport wird Marcel Nguyen immer verbunden bleiben, schon im Frühjahr reist er auf Einladung der japanischen Regierung als einer von nur sieben Turnern zum G7-Gipfel nach Hiroshima. Mit kreischenden Mädchen ist dort allerdings eher nicht zu rechnen.

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