Süddeutsche Zeitung

Turnen:Auf der Suche nach dem Ende

Kohei Uchimura, der überragende Turner seiner Zeit, wollte am Sonntag nach der WM abtreten. Doch der Abschied fällt dem Japaner schwerer als gedacht. Wie viele Anläufe kann man zum großen Abschied nehmen?

Von Volker Kreisl

Er hatte stets alles im Griff. Die Turn-Technik, die richtige Dosierung des Krafttrainings und alle sechs Geräte. Der Japaner Kohei Uchimura hat zehn Jahre lang im entscheidenden Moment gut bis exzellent ausgesehen, weil er die Planung beherrschte und eigentlich auch immer die richtige Einteilung der Zeit. Bis vor 16 Monaten, da ist sie ihm enteilt.

Uchimura, der 32 Jahre alte und überragende Turner seiner Zeit, wünscht sich wie jeder Top-Sportler ein angemessenes Ende für seine schillernde Karriere und wollte dies spätestens am Sonntagabend zelebrieren. Da hatte er noch einmal einen Auftritt im Reckfinale einer Weltmeisterschaft - und das vor endlich wieder etwas Publikum in Kitakyushu, seiner Geburtsstadt.

Fünf Konkurrenten waren aber besser an der Hochstange, und noch am selben Abend sagte Uchimura der Nachrichtenagentur AFP, nach seinem eigentlich letzten Wettkampf: "Über meinen Rückzug will ich nicht reden." Stattdessen wolle er nochmal darüber nachdenken. "Ich fühle mich nicht so, als wollte ich nicht mehr turnen." Im Gegenteil, der Wettkampf habe ihn wieder befeuert. Denn trotz der fehlenden Wertungspunkte habe ihn dieser Auftritt "daran erinnert, wie sehr ich das Turnen noch mag".

Sportler dieses Kalibers wollen nicht als Verletzte oder Qualifikationspechvogel abtreten

Bleibt er dabei, dann müsste er einen vierten Anlauf nehmen für ein passendes Karriereende, und das könnte nur die nächste Weltmeisterschaft in genau einem Jahr in Liverpool sein. Uchimura, der anmutige und duldsame Ausnahme-Turner, dem Fans den etwas wuchtigen Spitznamen King Kohei gaben, rang also am Sonntag immer noch um eine abgerundete Karriere. Um einen Auftritt wohl, ähnlich wie Fabian Hambüchen, der in Rio 2016 seinen letzten Salto-Flug als Turner vom Reck in der Matte sicher stand und dabei Olympia-Gold holte. Sportler dieses Kalibers wollen nicht als Verletzte verschwinden oder als Qualifikationspechvogel abtreten. Ein großes Karriereende ist wie ein guter Buchschluss, nur, er muss auch geschrieben werden.

Und da sitzt Uchimura schon seit 15 Monaten dran. Ende Juli 2020 wären die Olympischen Spiele terminiert gewesen, aus bekannten Gründen musste auch Uchimura ein Jahr länger trainieren, es ging um Olympia in der Hauptstadt seiner Heimat. Das Jahr lief ab, die Spiele begannen, Uchimura, der mittlerweile das Programm auf sein Spezialgerät Reck reduzierte, trat in der Qualifikation an und rutschte bei einem Unterschwung von der Stange ab. Wie alles am Reck erforderte auch dieses Element höchste Fähigkeiten, und doch sah es für den großen Favoritensturz unpassend beiläufig aus.

Die Jahre hatten an Uchimura ihre Spuren hinterlassen. Denn er war talentiert an allen Geräten. Seine größte Sieg-Sammlung bekam er als Mehrkämpfer zusammen mit acht WM- und Olympia-Titeln. An allen Geräten errang er insgesamt bei den beiden großen Weltereignissen 20 Einzelmedaillen. Besonders strapaziös für einen noch so drahtigen und muskulösen Körper waren aber die Mehrkampf-Auftritte, nicht nur die goldenen, denn diesen Einsätzen geht ein langes Sommer-Training voraus. Bei der Weltmeisterschaft 2017 traten die ersten Folgen der Strapazen zutage. Uchimura verletzte sich in der Qualifikation am Knöchel und büßte allmählich seine Überlegenheit ein. Immerhin, 2018 sicherte er sich noch einmal Reck-Silber und Team-Bronze bei der Weltmeisterschaft in Katar.

Champions sind nun andere, etwa Daiki Hashimoto, sein zehn Jahre jüngerer Teamkollege

Als er nun im August in der Qualifikation der aufgrund der Pandemie verlegten Olympischen Spiele abrutschte, da waren zwar wegen Corona keine Zuschauer in der Halle, und doch war es in diesem Moment noch etwas stiller als still. Hatte ihn die lange wettkampffreie Zeit gestört, fehlte die volle geistige Präsenz am Gerät? Oder mangelte es ohne die vielen Übungen zuvor an jener Routine, die er über die Jahre gewohnt war? Uchimura wusste es selber nicht. "Ich habe immer meine Trainingsergebnisse im Wettkampf voll zeigen können", sagte er in Tokio nach dem Sturz, "diesmal nicht."

Die Zeit seiner Karriere tickte weiter, aber Uchimura machte im Wettlauf mit ihr doch noch einmal Boden gut. Er konzentrierte sich aufs Reck, trotz der Schmerzen in der strapazierten Schulter, denn der Einsatz in seiner Heimat in Kitakyushu im Norden der südlichsten japanischen Insel Kyushu war es wert. Was dann folgte, war eine Demonstration der Jugend und Platz sechs für ihn - kein Erfolg für Uchimura. Turn-Champions sind nun die Chinesen Zhang Boheng und Hu Xuwei, oder Daiki Hashimoto, Uchimuras zehn Jahre jüngerer Teamkollege, der vor drei Monaten gekürte Mehrkampf-Olympiasieger.

Dem jungen Hashimoto gratulierte er besonders und erkannte: "Ich muss nicht mehr immer der Gewinner sein." Schließlich sei die ganze Mannschaft noch jung, sie blicke ja in eine große Zukunft. Überhaupt: "Da kommt eine neue Generation in allen Ländern hoch", sagt er. Das klingt dann doch so, als könne der mit sich ringende Kohei Uchimura nach dieser langen Reise und noch ein paar weiteren Nächten, in denen er viel nachdenken kann, Abschied nehmen vom Hochleistungsturnen und seiner beispiellosen Karriere.

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