Süddeutsche Zeitung

Turnen:Gestresste Endzwanziger

Die Deutschen treten bei der WM in Katar mit geschwächten Teams an. Dabei geht es um einiges: Nur die besten 24 Teams sind im September 2019 in Stuttgart dabei. Und die zwölf besten Mannschaften jener WM dürfen dann 2020 nach Tokio.

Von Volker Kreisl, Doha/München

Das sind eigentlich noch dynamische junge Männer, bewegliche Athleten mit strammen Muskeln und elastischen Sehnen. Auch Marcel Nguyen zählt noch zu dieser speziellen Gruppe von Sportlern, obwohl ihn gerade diese angeknackste Rippe bei jeder Verdrehung des Oberkörpers schmerzt. Gefährte Lukas Dauser, auch aus Unterhaching, ist zwar offiziell wieder schmerzfrei, hatte aber erst kürzlich ein kaputtes Knie (Kreuzbandriss mit Meniskusschaden) auskuriert. Den Kreuzbandriss hatte Andreas Toba wiederum schon 2016, dafür tut jetzt, kurz vor der Turn-Weltmeisterschaft in Katar, die Achillessehne weh. Immerhin kann Toba dabei sein, anders als Teamkollege Andreas Bretschneider, der sich vor vier Wochen die Achillessehne ganz gerissen hatte.

"Dieser Sport ist manchmal ärgerlich", sagte Nguyen kürzlich. Er bezog das zwar auf einen vermasselten Barrenabgang, weshalb ihm eine fast sichere EM-Medaille entgangen war, aber der Satz betrifft genauso auch die aktuelle Situation. Turnen strapaziert den Körper derart, dass man schon als alt einzustufen ist, ehe man die 30 erreicht. 30 Stunden pro Woche an sechs Geräten zu trainieren, lässt sich der Körper eben nicht länger als zehn Jahre gefallen. Weil das Team von Bundestrainer Andreas Hirsch also wieder einmal ersatzgeschwächt ist, sind bei den ab Donnerstag startenden Wettkämpfen Medaillen nicht einzuplanen. Bei den Frauen des Deutschen Turnerbundes sieht es ähnlich aus, Schwebebalkenspezialistin Tabea Alt und Balken-Weltmeisterin Pauline Schäfer sind verletzt, die Stufenbarren-Turnerinnen Elisabeth Seitz und Sophie Scheder haben längere Krankheits- oder Verletzungsphasen hinter sich. In beiden Teams fehlt den Jüngeren die Wettkampferfahrung.

Keine Streichwertung: Jeder Wackler drückt die Note

Der Einsatz bei dieser WM in der Mitte des Olympiazyklus' ergibt jedoch auch für die geschwächten Deutschen einen Sinn. Sie müssen in Katar ja im Prinzip schon den ersten Teil der Qualifikation für die Spiele in Tokio hinter sich bringen: Nur die besten 24 Teams von Katar turnen im September 2019 in Stuttgart mit. Die zwölf besten Mannschaften dieser WM sind dann 2020 in Tokio dabei. Zumindest die Aufgabe in Katar dürfte für die DTB-Riegen trotz aller Einschränkungen kein Problem sein. Darüberhinaus geht es für Jung wie für Alt im Turnen wie immer weiterhin ums Lernen. Denn auch dieser zuweilen ärgerliche Sport erfindet seine Regeln stets wieder neu: In Tokio dürfen nur vier Turner für insgesamt 18 Übungen bereitstehen. Es gibt keine Streichwertung mehr, jeder Sturz, jeder Wackler drückt die Gesamtnote, weshalb Hirschs strapazierte Endzwanziger nun besonders vielseitig sein sollten und noch mehr trainieren müssen.

Für den Trainer wird es in Katar also darum gehen, die universellsten Teamturner für die nächsten zwei Jahre zu finden, mit dabei sind noch der Hallenser Nick Klessing und Philipp Herder aus Berlin. Um diesem Kreis anzugehören, geht auch Marcel Nguyen wieder an sein Limit, wobei die Methoden in seinem Turner-Alter etwas raffinierter sind. Es geht jetzt weniger um Plackerei als um intelligente Abwechslung im Training. Um seine Bodenübung zu verbessern, arbeitet Nguyen zum Beispiel mit dem französischen Trainer Valentin Potapenko zusammen. Der ist auf Bodenübungen spezialisiert und verhilft ihm zu einer stimmigeren Choreografie und wieder zu besserer Akrobatik in den Sprüngen, etwa einer zweiten Schraube im gestreckten Doppelsalto.

Marcel Nguyen wird seine Höchstleistungsphase, in der er mit 24 Jahren Barren- und Mehrkampfsilber bei den Spielen in London 2012 gewann, nicht wiederholen können. Aber er kann wie Dauser und wie die Turnerinnen Seitz und Scheder immer noch in ein WM-Finale kommen. Und, wenn seine Rippe vielleicht Ruhe gibt und ihm alles gelingt, dann kann es auch für eine Medaille reichen und insgesamt für den Beweis, dass in diesem strapaziösen Sport auch ein 31-Jähriger noch etwas ausrichten kann.

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Quelle:
SZ vom 24.10.2018
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