Süddeutsche Zeitung

Turnen:"Es war nicht mein Fehler"

  • Simone Biles macht öffentlich, dass auch sie vom US-Teamarzt Larry Nassar sexuell missbraucht worden ist.
  • Der Fall der US-Turnerinnen ist nur ein Beispiel für eine gnadenlose Sportkultur.

Von Volker Kreisl

Es klingt, als wolle sich Simone Biles entschuldigen. Sie bittet darum, dass man ihr glauben möge. Offenbar hat es sie viel Zeit gekostet, zu verstehen, was passiert war. "Es war viel schwerer, diese Worte zum ersten Mal auszusprechen, als sie jetzt aufzuschreiben", erklärte sie am Montagabend kalifornischer Ortszeit auf Twitter. Die Worte lauten: "Auch ich bin eine der vielen Überlebenden, die von Larry Nassar sexuell missbraucht wurden."

Aber es ist natürlich kein Geständnis, das die Olympiasiegerin Biles formuliert, sondern eine weitere, sehr deutliche Anklage gegen den ehemaligen Team-Doktor des amerikanischen Turnverbandes USAG, Larry Nassar. Der ist wegen des Besitzes von Kinderpornografie bereits zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Noch in dieser Woche soll das zweite Urteil gefällt werden. Vor dem Bezirksgericht in Michigan geht es um Taten, die die Turnerinnen direkt betreffen: vielfacher sexueller Missbrauch während sogenannter medizinischer Behandlungen. Erwartet werden noch einmal bis zu 40 Jahre Haft.

Was Simone Biles berichtet, unterscheidet sich nicht von den Erlebnissen, die etwa die Olympiasiegerinnen Gabrielle Douglas und McKayla Maroney schilderten. Und doch weiß die Turnerin aus Texas wohl, dass ihr Bericht eine noch stärkere Wirkung in den Medien entfalten kann. Bis zu ihrer Auszeit nach den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro war sie mit großem Abstand die weltbeste Turnerin. Sie gewann in Rio viermal Gold und einmal Bronze und davor zehn WM-Titel, darunter drei im Mehrkampf. Und sie will weitermachen bis zu den Spielen in Tokio 2020, sie sagt: "Ich war nie eine, die aufgibt. Ich werde es nicht zulassen, dass ein Mann und die anderen, die ihm halfen, mir das wegnehmen, was ich liebe."

Unter den prominenten Opfern waren bislang nur ehemalige Turnerinnen, mit Biles' Erklärung ist es für USA Gymnastics schwer, einfach einen Schlussstrich zu ziehen in der Hoffnung, dass neue Medaillen von neuen Turnerinnen den vielleicht größten Missbrauchsskandal des Sports vergessen lassen. Mit dem setzt sich Biles offenbar auch psychologisch auseinander, sie schreibt, sie habe sich lange gefragt, ob sie zu naiv war, ob alles vielleicht ihre Schuld sei, bis sie zu dem Schluss kam: "Es war nicht mein Fehler." Es waren die Erwachsenen, neben dem Täter auch die "anderen".

"Es bricht mir das Herz, wenn ich nun in die Trainingshalle zurückkehren muss"

Die anderen, das sind wohl Teile eines ganzen nationales Sport-System. Die Turn-Autorin Dvora Meyers wies schon vor einem halben Jahr mit einem beachtlichen Artikel im US-Sportblog deadspin nach, dass die Ursachen des Nassar-Skandals vor Jahrzehnten angelegt wurden. "Sexueller Missbrauch", erklärt darin der Sportpsychologe Robert Andrews, sei "symptomatisch für eine Kultur, in der Athleten ihre eigene Stimme verboten wird". Besonders deutlich wird dieses am Beispiel der berühmten Turn-Ranch in Texas, jenem nationalen Trainingszentrum, aus dem auch Biles stammt, in dem Nassar regelmäßig zu Besuch war, und das Biles vermutlich meint, wenn sie schreibt: "Es bricht mir das Herz, wenn ich nun in die Trainingshalle zurückkehren muss, in der ich missbraucht wurde."

Die Kultur der verbotenen Stimme ist, so Meyers, kurz vor der Jahrtausendwende in den USA entstanden, genauer gesagt im nationalen Zentrum in Texas. Das US-Team hatte vor den Sommerspielen 2000 einige schwere Niederlagen erlitten, man installierte zunächst Bela Karolyi, später seine Frau Martha als nationale Teamleiter. Die beiden setzten kompromisslos auf Druck. Die Devise beschreibt die damalige Olympiaturnerin Tasha Schwikert so: "Wir machen euch fertig, warten, wer übrig bleibt, und dann haben wir das Team."

Im Camp Karolyi gab es nach Meyers Recherchen extrem hartes Training. Verletzungen seien verharmlost worden, Elternbesuch sei nicht erwünscht, das Essen dagegen überwacht worden. Zum Telefonieren gab es nur zwei Münz-Apparate, als die Turnerinnen irgendwann Handys hatten, nannten sie das Camp "schwarzes Loch". Denn ein bisschen Empfang bekam man höchstens auf dem Hochstuhl des Swimming-Pools. Dann kam Larry Nassar.

In einer Atmosphäre des bedingungslosen Leistungsdrucks, in der körperliche Beschwerden oft abgetan wurden, trat der Teamarzt offen für das Wohl der Sportlerinnen und für eine vernünftige Rehabilitation ein. Turnerinnen und Trainer waren zunächst begeistert. Zugleich profitierte Nassar aber auch von der Atmosphäre der Isolation, die Zeugen auf der Karolyi-Ranch ausmachten. Die Opfer, die ohnehin wenig Selbstbewusstsein aber viele Selbstzweifel hatten, waren Nassar gewissermaßen ausgeliefert.

Nur ein Beispiel für eine gnadenlose Sportkultur

Nassar wird für sehr lange Zeit ins Gefängnis gehen, aber die US-amerikanische Turngemeinde steht noch am Anfang. Die Karolyi-Ranch-Atmosphäre ist nur ein Beispiel für eine gnadenlose Sportkultur, die auch in vielen anderen Fällen bei Missbrauchsverdacht wegschaute. Biles sagt, "wir müssen verstehen, warum das so lange möglich war. Wir müssen sicherstellen, dass es niemals wieder passiert."

Wie es aussieht, gibt es dann aber keine Medaillengarantie mehr. Denn dem System müsste der gnadenlose Leistungsgedanke entzogen werden, auf dem der Erfolg beruhte. Jener Gedanke, der die Verantwortlichen blind macht für die Sorgen der Athletinnen.

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SZ vom 17.01.2018/schma
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