Süddeutsche Zeitung

Turnen:Ein Sprungbrett für die Freude

Barrenspezialist Lukas Dauser hat seine WM-Niederlage verarbeitet und will es noch einmal wissen: Für seinen Traum von Olympia sucht er neue Impulse am Stützpunkt in Halle.

Von Volker Kreisl

Manche Wegbegleiter hatten Lukas Dauser irgendwann geraten, dieses WM-Barrenfinale doch einfach zu vergessen. Das viele Analysieren und Grübeln bringe nichts, es sei viel einfacher, hieß es, nicht mehr daran zu denken, es abzuhaken. Aber Dauser sagt, das sei nicht seine Art: "Ich will es nicht vergessen, ich will daraus lernen und stärker werden."

Es war seine Weltmeisterschaft, seine Form, sein Finale. Er hatte trotz einer Verletzung lange darauf hingearbeitet, er war rechtzeitig wieder fit, hatte sich tadellos fürs Finale an den Parallel-Holmen qualifiziert, hatte zu dieser Zeit die beste Übung der Welt, mit dem höchsten Wert. Dann legte er mächtig los, aber auf einmal schien seine Energie zu weichen, wie Luft aus einem hoch fliegenden Ballon. Zu früh stand er plötzlich auf der Matte, ratlos, während die Zuschauer kurz erstarrten und dann aufmunternd klatschten, wie man das eben macht. Trotzdem: Alles war verloren. Es folgte eine lange Phase der Niedergeschlagenheit, dann die Analyse, das Verstehen und schließlich ein neuer Aufbruch.

Immer zu lernen und stärker zu werden, zählt zu Dausers Wesen und hat wohl auch mit der neuesten Entwicklung zu tun. Er analysierte schon immer haarklein seine Situation und scheute die Konsequenzen nicht. Mit 18 Jahren packte er seine Tasche, verließ die gemütliche Heimat, und zog, man kann das hier durchaus sagen, in die große weite Welt. In Unterhaching hatte er das Turnen gelernt, am Stützpunkt in Berlin bildete er sich nun fort, neun Jahre lang, bei den Trainern Andreas Hirsch, Jens Milbradt, Sebastian Faust und Robert Hirsch. Er wurde A-Team-, WM- und Olympiaturner, dann brach die lange Coronapause an und Dausers Analysen kamen zu dem Schluss, dass er als nun 27-Jähriger abermals weiterziehen muss. Die weite Welt heißt nun Halle an der Saale.

Es ist ein Baustein, vielleicht der letzte entscheidende in seiner Karriere, denn am Stützpunkt von Trainer Hubert Brylok könnte Dauser noch vielseitiger werden. Der Barren war immer sein bester Freund unter den Geräten, da gewann er Silber 2017 bei der EM in Rumänien, da fühlt er sich wohl, vielleicht auch, weil er mit seinen vielen Handständen und Längsachsendrehungen über den Holmen eine besonders spektakuläre Übung vorlegt. Aber nun sagt er: "Ich will einen neuen Impuls setzen im Hinblick aufs nächste Jahr." Denn um ein kompletter Mannschaftsturner zu sein, braucht es fünf weitere Geräte. Die müssen wegen der Olympia-Vorschriften von allen Teilnehmern sicher und hochklassig beherrscht werden, sonst hat man bei den Spielen im wichtigen Teamwettkampf schon in der Qualifikation keine Chance.

Dausers schwächere Geräte sind die Ringe und der Sprung, und so kommt es nun, dass der Hachinger, der einst vom Barrenspezialisten Kurt Szilier geprägt wurde, demnächst zum Ringe- und Sprung-Trainer Brylok an die Saale wechselt. "Denn die Hallenser haben da eine gute Ausbildung", sagt Dauser, woraus folgt: Der Weg nach Tokio führt über Halle.

Mit seinen 172 Zentimetern zählt er zu den größeren Turnern, auch das kann ein Grund dafür sein, dass ihm am Ringegerüst und am Sprungtisch allzu viele Drehungen in den wenigen Sekunden zwischen Loslassen und Landen nur schwer gelingen. Schon einmal, im Jahr 2017, hatte er einen Tiefschlag hinnehmen müssen, als er gerade durchstarten wollte, weil er bereits zu den besten Turnern in Deutschland zählte. Beim Turnfest in Berlin riss er sich das Kreuzband, als er nicht optimal gelandet war, in der Ringe-Matte.

Ein Jahr hat er nun noch bis zu den Spielen, da lassen sich Details in den vielen Sequenzen nach dem Absprung vom Brett oder in einer Ringeübung überdenken und neu steuern. Vielleicht kann Dauser sogar ein neues Element einbauen. Und auch die Grundvoraussetzungen in Halle scheinen zu passen. Mit Nick Klessing, dem Ringefinalisten der vergangenen WM, kann Dauser ein Duo bilden, das sich gegenseitig im Training befeuert - und überhaupt: "Unsere Wettkampfvorbereitung und auch die Art der Belastungssteuerung", sagte Trainer Brylok in der Mitteldeutschen Zeitung, "entspricht seinen Vorstellungen."

Entscheidend bleibt jedoch, dass nicht nur in den Übungen nichts mehr hakt, sondern auch im Kopf. Dauser will keine offenen Fragen verdrängen, die ihn dann irgendwann, vielleicht sogar bei seinen zweiten Olympischen Spielen, heimsuchen. Er will reinen Tisch machen und lernen. Und deshalb weiß er heute auch, warum er bei der Weltmeisterschaft vor neun Monaten am Barren auf einmal den Schwung verlor.

Der technische Fehler war schnell gefunden. Wegen der Handverletzung zwei Monate zuvor fehlte ihm die Routine beim Greifen, weshalb er für einen Moment im Handstand wackelte, wodurch wiederum die Beine nach hinten kippten. Aber für Dauser ist das noch keine befriedigende Erklärung. Beratungen mit seinem Mentaltrainer ergaben: Die Hand war zwar geheilt, belastete aber noch den Geist. "Ich hatte unterbewusst Angst zu verturnen", sagt er, "bin einen Tick zu verhalten rangegangen." Und dann könne man schon nicht mehr mit "Freude" seine Übung zeigen.

Und Freude, das ist nach all den Jahren, bei all den Trainern und neuen Tricks und Techniken wohl immer noch das A und O.

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SZ vom 26.07.2020
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