Turnen:Die Frau, die die Ängste einer Nation besiegte

Schäfer gewinnt WM-Gold am Schwebebalken

Plötzlich kennen sie viele: Pauline Schäfer bei der WM in Montreal

(Foto: dpa)

Millionen Deutsche hatten im Schulsport Bammel vor dem Schwebebalken - doch Pauline Schäfer hat dieses Trauma zerschlagen. Porträt einer erstaunlichen Weltmeisterin.

Von Volker Kreisl

Das Leben ist eine einzige große Ungewissheit. Jederzeit, in jedem Alter können Katastrophen passieren: Karrierepläne zerplatzen, Krankheiten ausbrechen, Haustürschlüssel in einer Winternacht aus der Hosentasche rutschen, Bauklotz-Türme einstürzen.

Das macht aber nichts, denn der Mensch blendet solche Unwägbarkeiten aus. Nur manchmal, da ist die Gefahr nicht zu leugnen, sie steht materiell vor einem auf dem Boden wie ein Objektkunstwerk: als ein fünf Meter langer und zehn Zentimeter breiter Balken, der in der Luft liegt, gestemmt von zwei Stahlpfosten.

Pauline Schäfer sagt, wenn sie kurz vor einem Finale stehe, vor ihr dieser Schwebebalken, hinter ihr die Gegnerinnen, neben ihr die Kampfrichterin, die gleich als Zeichen zum Start den Arm hebt, dann sei dies der schlimmste Moment von allen.

"Warum?"

"Weil man plötzlich die vielen Trainingsstunden und all die Jahre im Kopf hat", sagt Schäfer, "alles, was man sich erarbeitet hat, wie hart man trainiert hat. Weil man weiß, dass das in einer Minute wieder vorbei ist, und man nicht weiß, wie es ausgeht."

Am Schwebebalken waren die Deutschen ihren Ängsten erlegen

Fast alle werden von diesem Gedankenstrudel heimgesucht, wenn es still wird in der Halle und die letzten Sekunden verrinnen, sagt die Chemnitzer Trainerin Gabriele Frehse. Und besonders am Schwebebalken waren die Deutschen jahrzehntelang ihren Ängsten erlegen. Den letzten WM-Titel hatte Maxi Gnauck vor 36 Jahren für die DDR geholt. Der Balken galt als Sturzgerät, ein internationaler Titel als undenkbar. Dann, am Abend des 8. Oktober dieses Jahres, gingen die deutschen Turn-Zuschauer und die Aktiven des hierzulande zweitgrößten Sportverbandes wie immer zu Bett, und als sie am nächsten Morgen aufwachten, da war Pauline Schäfer, 20, Schwebebalken-Weltmeisterin.

Was da wegen der Zeitverschiebung zum WM-Ort Montréal in der deutschen Nacht passiert war, ist eine Befreiung, und alle fragten sich, wie Schäfer das geschafft hatte. Sie ist ein nachdenklicher, manchmal zweifelnder Mensch, der sich beim Sprechen langsam zum Ende des Satzes vortastet. Sie verschwindet täglich in einem Turnhallenkasten im Chemnitzer Sportforum, danach sitzt sie in der Abitur-Abendschule. Außerhalb ihres Turn-Milieus kannten sie nicht viele, aber das hat sich schlagartig geändert.

Schäfer ist nun Zweite geworden bei der Wahl zur Sportlerin des Jahres, und sie hätte wohl gewonnen, hätte die Biathletin Laura Dahlmeier nicht im selben Jahr fünf von sechs möglichen WM-Goldmedaillen abgeräumt. Pauline Schäfer hat nur eine ergattert, aber die Bedeutung ist womöglich größer. In Montréal hat sie - zusammen mit der Ludwigsburger Bronzegewinnerin Tabea Alt das deutsche Balkentrauma zerschlagen.

Wenn Namen wie Verletzungen klingen

Wer je in einem Turnverein war, den faszinierte das Kantholz schon im Schüleralter. Entweder man bewunderte oder man fürchtete es. Bewundert wurde der Balken von der Minderheit, von ein paar Mädchen, die sich schon zu Sprüngen hinauf wagten. Zu den anderen, zur Mehrheit, zählten auch die Jungs, die der Schwebebalken eigentlich nichts anging, die trotzdem ehrfürchtig hinüber schielten, während sie der Schmerz eines umgeknickten Knöchels oder aufgeschürften Schienbeins beschlich, obwohl sie gerade nur auf einem Riesentrampolin herum hopsten.

Werden die Mutigen älter und bleiben sie dabei, dann können die meisten trotz aller Routine das Zittern nicht abstellen. Die Beine zittern einfach, sagt Frehse, zu viel stehe auf dem Spiel, nach einer Weile gibt sich das. Schäfer hatte in Montréal aber noch ein ganz anderes Problem.

Unberechenbares Leben

Zum unberechenbaren Leben zählt auch das Startlisten-Los, und das beförderte Schäfer auf Platz eins von acht Finalistinnen. Da steht man vor dem Nichts. Alle anderen turnen nach einem, es gibt keine Vergleichsgröße. Turnt man zu defensiv, könnte es nicht reichen, riskiert man zu viel, wirft einen der Balken gleich ab. Außerdem haben manche Kampfrichterinnen die unangenehme Neigung, die Erste etwas spärlicher zu bewerten, denn wo komme man sonst hin? Es muss immer noch eine Steigerung möglich sein, falls mit Nummer sieben oder acht noch eine Wunderturnerin antritt.

Auch all diese Gedanken schüttelte Schäfer ab, sonst wäre ihr nicht gleich ein astreiner Durchschlagsprung gelungen - ja, die Namen der einzelnen Elemente klingen auch schon wie eine Verletzung: Quergrätschsprung, Rehringsprung. Beim Durchschlagsprung vollführt Schäfer eine Art überdehnten Spagat, so zirka anderthalb Meter über dem Balken, sie berührt dabei mit der Wade fast den Hinterkopf, was dann den Durchschlagring ergibt. Frehse sagt: "Schäfers Durchschlagring ist einer der besten der Welt."

Schäfer wackelte nicht

Das hilft ihr aber nichts, wenn sie danach nicht punktgenau auf der Kante landet. Aber Schäfer wackelte nicht. Sie stand einfach da, als wäre der schmale Grat ein Wohnzimmerteppich, und konzentrierte sich auf die nächste Herausforderung. Auch Schäfer profitiert heute davon, dass Bundestrainerin Ulla Koch und die Verantwortlichen des Deutschen Turnerbunds vor vier Jahren die Nase voll hatten, von den heftigen Ruderbewegungen ihrer Schülerinnen, von unschönen Körperzuckungen und nach Gleichgewicht angelnden Beinen, gefolgt vom Abgang in die Matte und der Gewissheit, dass alles vorbei ist.

Engagiert wurde Carol Ann Orchard, eine kanadische Wunderlehrerin für den Balken, die schon andere Zitter-Turnerinnen gefestigt hatte, und die auch die Deutschen heilte - und zwar mit kurzen Leitsätzen wie: "See the beam!" oder: "Stop the energy!" Schau auf den Balken, das klingt nach arg einfacher Formel, und das war es auch. In der Entzauberung der Gefahr lag die Lösung. Statt bibbernd schon für die nächste Gleichgewichtsrettung bereit zu sein, entwickelten Schäfer, Alt, Sophie Scheder, Kim Bui und Elisabeth Seitz und mittlerweile auch die deutschen Nachwuchsturnerinnen ein Gefühl für die kinetische Energie ihres Körpers und dafür, wo sich der Balken befindet. Und zwar in jeder Sekunde von dieser Minute.

"Pauline ist ein Jahrhunderttalent"

Schäfer beherrschte dieses Gerät ja schon immer, durch Orchard wurde sie noch besser. Mit fünf Jahren hatte sie angefangen zu turnen, 2012 war sie aus ihrer Heimat im Saarland nach Chemnitz gezogen. 2015 gewann sie in Glasgow WM-Bronze, und sie lernt täglich dazu. In der Chemnitzer Halle, die mit Geräten vollgestellt ist wie ein Lagerraum, stehen drei von diesen Balken, Schäfer macht auf einem zwei Flik-Flaks vor, zwei zurück, dreht Pirouetten, hebt ab, landet, hebt ab, landet. Sie riskiert zu viel, muss abspringen, stemmt sich wieder hoch, immer mit dem Blick nach innen oder auf den Balken. Diese Routine sieht perfekt aus, dabei ist sie keine perfekte Turnerin.

Manche nennen sie schon "Star", und Frehse, die schon so viele Turnerinnen gecoacht hatte, sagt, eher beiläufig: "Pauline ist ein Jahrhunderttalent." Ihre weiteren Möglichkeiten sind an allen vier Geräten noch beachtlich, und doch ist Schäfer auch ein irgendwie menschlicher Stern, denn sie hat ein Handicap, einen "Rückwärtsblock", sagt Frehse.

Eine innere Blockade, eine Angst

Es ist eine innere Blockade, eine Angst, vielleicht vergleichbar mit der vor dem Fliegen: irrational, schwer zu orten, mal heftiger, mal geringer. Sie packt Schäfer, wenn sie nach hinten abspringt, ins Ungewisse, weil sie Boden oder Balken nicht sehen kann. Vielleicht hängt das mit einem Sturz auf den Kopf in der Jugend zusammen, vielleicht stammt es aus noch früheren Tagen. Schäfer kann nur lernen, damit umzugehen, ihre Übungen entsprechend aufzubauen, Absprünge ins Ungewisse zu vermeiden, und sich dem Unvermeidlichen zu stellen, zum Beispiel bei der notwendigen Rückwärts-Flik-Flak-Salto-Kombination im WM-Finale von Montréal. Sie landete auch jetzt sicher mit festem Balkenboden unter den Füßen.

Mit viel Üben allein kriegt man die Angst vor dem Ungewissen kaum in den Griff. Im Idealfall bekämpfen Sportler das Lampenfieber nicht mit Verdrängung, sondern mit eigenen Stärken. Und womöglich hat Schäfer da eine Geheimwaffe, die ihr auch gegen die Rückwärtsangst hilft und gegen den schlimmen Moment vor dem Start, in dem "man nicht weiß, wie es ausgeht". Denn Schäfer hat den Vorteil, dass sie den scheinbar unberechenbaren Balken liebt.

Ein sicherer Schäfersalto

Er sei "das Königsgerät der Frauen", sagt sie, gerade weil er gnadenlos ist. Am Stufenbarren, sagt sie, "kannst du dich bei einem Fehler immer noch irgendwo festhalten, irgendwie ausgleichen und weitermachen". Am Schwebebalken? Kein Halt. Eine minimale Abweichung in der Fußhaltung, eine kurze gedankliche Abwesenheit - "und es ist aus". Dieser brenzligen Situation stellt sich Pauline Schäfer bewusst, und während sie so schwärmt, wirkt es sogar so, als habe sie Lust darauf.

Der Höhepunkt ihrer Übung in Montréal war ein sicherer Schäfersalto, ein Vorwärtssalto mit halber Drehung, der so heißt, weil sie ihn selbst erfunden hat. Damit kann sie ihren Rückwärtsblock ausgleichen, womöglich auch irgendwann mit der nächsten Kreation, an der sie gerade arbeitet. In Montréal scheiterten jedenfalls sieben Elite-Balken-Turnerinnen an Schäfers Vorgabe, die hatte kurz darauf eine Goldmedaille um den Hals und Tränen auf den Wangen.

Es kann schon sein, dass auch weiterhin immer alles passieren kann. Aber mit ein bisschen Angriffslust, so scheint es, kriegt man die allgemeine Bosheit des Lebens ganz gut in den Griff.

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