Süddeutsche Zeitung

Turnen:Der Baum liegt

Lesezeit: 3 min

EM-Zweiter, Mehrkampfmeister und Gesicht seines Sports: Lukas Dauser schien sich alle Wünsche zu erfüllen - jetzt hat er sich kurz vor dem Urlaub verletzt.

Von Volker Kreisl, Berlin

Lukas Dauser hatte seinen Arm noch mal gehoben, dieser ragte aus dem Menschenknäuel im Eck der Halle für einen Moment heraus. Doch es war ein matter Gruß ans Publikum. Der Arm fiel wieder nach unten, dann wurde der 23-Jährige hinausgetragen und ins Krankenhaus gefahren. Auf dem Weg dahin durfte er darüber nachdenken, warum ausgerechnet er nun fürs Erste aus dem Spiel ist.

Geräteturnen ist eine der verletzungsintensivsten Sportarten. Die Kräfte bei Sprüngen aus drei oder vier Metern Höhe, bei blitzschnellen Rotationen um Längs- oder Breitenachsen sind stark, die kleinste Ablenkung kann schwere Folgen haben. Das wissen die Turner meistens aus eigener Erfahrung, und auch der Unterhachinger Dauser hatte schon Verletzungen. Was er wohl noch nicht ahnte, war die Variante, dass sein latent gefährlicher Sport auch zynisch sein kann.

Es waren die Finals an den Einzelgeräten bei den Deutschen Meisterschaften, die gerade im Rahmen des Turnfests in Berlin ausgetragen werden. Die Ringe, das letzte Gerät des Abends, stehen besonders für den trotzigen Kampf gegen die Physik, man legt sich etwa bei der Schwalbe gestreckt horizontal in die Luft, und wenn man das ein Sekündchen aushält, dann hat man die Physik für einen Moment besiegt. Dauser ist auch in diesen Bizeps- und Rückenmuskelübungen sehr gut, er wurde ja gerade Meister im Mehrkampf. Aber nun unterlief ihm beim Abgang ein Fehler, eine kleine Unaufmerksamkeit in der Berechnung. Nach dem Doppelsalto mit doppelter Schraube kam er noch während der Rotation zur Landung, sein rechtes Knie knickte nach innen. Das Bein hielt dem Druck nicht mehr stand, Dauser fiel nach rechts um wie ein Baum und blieb liegen. Die Schmerzen und die Schwellung im Knie ließen im Grunde nur einen Schluss zu: Kreuzbandriss.

Das wirft einen Athleten ein Dreivierteljahr aus dem Rennen, und obwohl derartige heftigere Verletzungen diesen Sport nun mal begleiten, sagte Bundestrainer Andreas Hirsch: "Das ist ein moralischer Tiefschlag." Eine Art Nasenstüber, nach dem man je nach Gemüt auch glauben kann, dass das Glück eben doch nicht verlässlich ist, man sich ja nie zu sehr freuen sollte. Denn es schien bei Dauser ja gerade so zu sein, sagte Hirsch, "dass alle Ziele dieses jungen Mannes in Erfüllung gehen".

Dauser ist keiner jener Hochkaräter, die schon als Kind auffielen. Er hat sich ein solides Fundament geschaffen, seine Zukunft in die Hand genommen, hat sich als 18-Jähriger von Unterhaching nach Berlin aufgemacht, um dort am Turn-Stützpunkt seine Fähigkeiten auszubauen. Zehntel um Zehntel stockte er die Ausgangswerte seiner Übungen an allen sechs Geräten auf, weil Hirsch wegen der neuen, strengeren Bestimmungen im olympischen Teamwettkampf vielseitige Turner braucht.

Dausers Paradegerät ist freilich der Barren, an dem er mit einer außergewöhnlichen Übung überzeugt. Er setzt hauptsächlich auf Handstand-und Griffwechsel, vorgetragen in schweren direkten Verbindungen. Spektakuläre Flugeinlagen fehlen, die Übung hat aber eine eigene Ästhetik: Dauser dreht und wendet sich an den Holmen auf verwirrende Weise und reiht aus allen möglichen Situationen seine Kerzen aneinander - und hebt sich damit von den anderen ab. Im April ging dann sein bislang höchstes Ziel in Erfüllung, bei der EM in Cluj in Rumänien holte er Silber.

Am Montag wurde er also in Berlin Mehrkampfmeister, und am Donnerstag hätte er sehr gute Aussichten gehabt, auch noch den Barrentitel zu gewinnen. Dauser ist zudem ein wichtiger Teil im Auftritt seines Verbandes. Der Olympiasieger Fabian Hambüchen verteilt nach seiner Verabschiedung zwar immer noch zwei- bis dreitausend Autogramme am Rande dieses Turnfests, aber der Turnerbund braucht ja immer auch einen Aktiven zum Vorzeigen. Quer über dem Haupteingang der Messe hängt hier somit ein riesiges Transparent vom barrenturnenden Dauser. Für die WM im Oktober in Montreal war er als einer der wenigen Medaillenkandidaten in Hirschs Team eingeplant.

Mit seiner Barrenübung hebt er sich von allen anderen ab

Was also sollte noch dazwischen kommen? Dausers Pläne waren immer gut überlegt, und er hat sich auch genau vorgestellt, was er in den zwei Wochen Urlaub, die er nächste Woche antreten wollte, so alles macht. Endlich Erholung nach einer erfolgreichen Saison - da, sagt Hirsch, "denkt man sich: Du bist jung, dir passiert eh nix, du brauchst keine Reiserücktrittsversicherung."

Das Geld für den Urlaub wird er womöglich schnell verschmerzen können, länger könnte es dauern, bis Dauser klar wird, dass auch ein dreiviertel Jahr Kreuzbandriss-Pause seiner Entwicklung nicht schadet, dass die vergangenen Wochen dennoch erfolgreich waren und dem Glück insgesamt schon zu trauen ist. Aber er muss das jetzt eben sacken lassen, oder wie der Berliner Andreas Hirsch zusammenfassend über diesen Kreuzbandriss sagt: "Die Kröte ist geschluckt, aber verdaut isse noch nicht."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3538979
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.06.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.