Turnen:"Das sind unsere Jahre"

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„Für uns heißt es jetzt schon versuchen, die Älteren auszustechen.“ – Nach Olympia hören viele seiner Konkurrenten auf, aber Geduld kann sich Felix Remuta nur schwer erlauben.

(Foto: Tilo Wiedensohler/Camera 4/imago)

Die Zeit des Unterhachingers Felix Remuta soll kommen. Der 21-Jährige hofft auf die Nominierung für die WM.

Von Thomas Gröbner

Jeden Tag muss Felix Remuta auf dem Weg zum Training im Kunst-Turn-Forum in Stuttgart an dieser verflixten Uhr vorbei. Sie zählt die Tage und Stunden zur Weltmeisterschaft herunter. Am Dienstag dieser Woche steht die Anzeige auf 37 Tagen, und es gibt keinen Zeiger, den man vor oder zurückdrehen könnte. Schaut er dann zu? Oder schauen die Menschen ihm zu? Das ist die Frage, die ihn umtreibt und die sich bald entscheiden wird.

Die Turnhalle scheint sich neben dem Stadion des Zweitligisten VfB Stuttgart fast zu ducken, aber wie der Fußball andere Sportarten erdrückt, das ist eine andere Geschichte. Zumindest wenn die Weltmeisterschaft vom 4. bis zum 13. Oktober hier stattfindet, dann soll das Land wieder auf die Turnhallen blicken - und vielleicht auch auf Remuta, 21, aus Unterhaching. Das Zeitfenster, in dem ein Turner richtig erfolgreich sein kann, ist kurz. Zwischen 22 und 26 erreiche man den "Peak", sagt er, da sei man am besten. Vielleicht ist das ist auch der Grund, warum er so gelassen wirkt, wenn es auf die finalen Wochen vor dem Saisonhöhepunkt zugeht. Weil die Zeit auf seiner Seite zu sein scheint.

Remutas Karriere geht im Zeitraffer so: Alles beginnt beim Mutter-Kind-Turnen in Holzkirchen, schon mit fünf Jahren turnt er für Bad Tölz. Er ist sieben, als er oberbayerischer Meister wird. Er wechselt nach Unterhaching, wird mit 14 zum ersten Mal deutscher Meister im Sprung. "Da hab ich mich entschieden, dass ich jetzt alles reinstecke. Das hat mich angefixt." Selten, aber manchmal sehnt er sich weg aus der Halle, wenn er die Instagram-Bilder seiner Freunde sieht. Das Sportlerleben ist eines der Entbehrungen, gerade dann, wenn man noch für seinen Traum kämpft. Seine Freunde leben ein "richtiges Studentenleben", wie er es nennt, gehen auf Weltreise. Er turnte zwischen schriftlichem und mündlichem Abitur die Jugend-EM. "Aber es gibt einem auch viel", sagt er. "Ich hab es nie als Bürde gesehen."

In zwei Wochen wird der Bundestrainer seine Nominierung für die WM erklären, Tabellen und Zahlenreihen zeigen, Remuta weiß schon, wie das abläuft. Zweimal war er einer von denen, die nicht ins Team durften. Am Ende wird eine Konstellation errechnet: fünf Turner, die zusammen wohl die höchste Punktzahl versprechen. Es zählt die nackte Zahlenakrobatik, da ist der Turnsport unbarmherzig. "Wenn wir ein Team haben, das richtig gut am Boden ist, und es fehlt noch ein Mann, dann ist es unwahrscheinlich, dass ich genommen werde", sagt Remuta. Sein Problem: In Andreas Toba, Youngster Karim Rida und Marcel Nguyen sind schon gute Bodenturner im Team. Die Gefahr ist groß, dass er die WM wieder nur als Zuschauer erlebt. Das könnte sich aber schnell ändern. Denn nach Olympia hören viele seiner Konkurrenten - Remuta nennt sie "Freunde" - mit dem Turnen auf. Dann sind es die Jüngeren, die die Lücke schließen müssen: Turner wie er oder Karim Rida müssen dann dafür sorgen, dass das deutsche Männerturnen international nicht abgehängt wird. Dieser Übergang, "das wird ein Problem, das wissen alle", sagt Kurt Szilier, der Remuta vier Monate im Jahr drei Stunden täglich in Unterhaching trainiert, in Stuttgart ist er die restlichen acht Monate.

Szilier sagt: "Er muss die Hoffnung tragen." Aber er sagt auch: "Er muss mehr als zwei starke Geräte anbieten." Und das ist Remutas zweites Problem. In einem Team, in dem es immer mehr Generalisten braucht, ist Remuta ein Experte. Bundestrainer Andreas Hirsch formulierte nach der EM in Stettin im April einen Weckruf. An den "Schwachpunktgeräten" seien die jungen Turner keine richtige Hilfe gewesen. "Das muss für die jungen Leute Anlass sein, zu sagen, ich verändere mich. Sonst komme ich nicht in diese Mannschaftsformation."

Remuta muss sich von dieser Kritik durchaus angesprochen fühlen. Er ist schnell und sprunggewaltig, am wohlsten fühlt er sich in der Luft. Im Sprung ist er deutscher Meister geworden, da gehört er zu den stärksten im Land, genauso am Boden. Aber er hat seine Schwäche an den Ringen und am Pferd. "Die Kraftelemente liegen mir nicht so." Gerade das Pferd ist ein Problem, sein "Zittergerät". Dabei muss man Remuta auch in Schutz nehmen, bei der EM hatte er sich mit gerissenen Bändern durch die Übungen gequält. Eine Verletzung, die ihn immer noch beeinträchtigt. "Ich weiß nicht, ob dabei noch mehr kaputt gegangen ist. Aber ich wollte turnen", sagt er. Bis Ende Juli musste er danach pausieren, zwei Monate lang. Erst seit August ist er wieder voll belastbar. Er kennt den Schmerz, wenn Bänder reißen, es war sein neunter Bänderriss. Aber eine Europameisterschaft, das sei eben etwas Großes. Da muss man halt auf die Zähne beißen. Denn: "Das was jetzt kommt, das sind unsere Jahre." Geduld kann sich ein junger Turner nicht erlauben. "Für uns heißt es jetzt schon versuchen, die Älteren auszustechen."

In der Halle legt sich über alles ein weißer Staubfilm, auch als Zuschauer muss man sich nach dem Training das Magnesium aus der Hose klopfen. Es turnen Siebenjährige neben ihren Vorbildern. Marcel Nguyen, Elisabeth Seitz und Kim Bui sind da, Turner, die 2016 in Rio de Janeiro bei den Olympischen Spielen dabei waren. In kaum einem anderen Sport ist sich die Zukunft und die Gegenwart so nahe. Draußen an der Halle hängen ihre Gesichter auf einem Plakat, drinnen schinden sie sich verbissen.

Remuta fehlt noch auf dem Plakat. Wenn es gut läuft, soll auch er bald eins dieser Gesichter sein.

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