Turnen:An die Grenzen getrieben

Turnen: Jahrhunderttalent: Kohei Uchimura holt vier Jahre nach seinem Olympiasieg in London auch in Rio de Janeiro die Goldmedaille im Mehrkampf.

Jahrhunderttalent: Kohei Uchimura holt vier Jahre nach seinem Olympiasieg in London auch in Rio de Janeiro die Goldmedaille im Mehrkampf.

(Foto: Regina Schmeken)

Der Ukrainer Wernjajew liefert dem seit Jahren dominierenden Japaner Uchimura einen denkwürdigen Kampf um Gold.

Von Volker Kreisl

Vielleicht war es dieser eine Schritt. Diese eine letzte Bewegung, um nicht vornüber zu fallen nach einem Wettkampf über sechs Geräte. Über den Boden, das Pauschenpferd, die Ringe, den Sprungtisch, den Barren und dann übers Reck mit einer Übung, die viele Elemente enthielt, nicht sonderlich spektakulär, aber sicher und schön geturnt, abgeschlossen mit einem Doppelsalto gestreckt und zwei Drehungen in den Stand. Und mit diesem einen verfluchten Schritt nach vorne.

Was kostet so ein kleiner Schritt? Das wird sich Oleg Wernjajew aus Donezk in der Ukraine gedacht haben, als er von der Matte ging, es in der Halle ruhig wurde und alle auf das letzte Urteil der Punktrichter warteten. Sonst war ja nicht viel an seiner letzten Übung auszusetzen, aber wahrscheinlich wird der 22-Jährige gar nichts Konkretes gedacht haben. Er trat vom Reckpodium herunter und tigerte auf und ab. Er war kurz davor, zum bedeutendsten Turner dieser Olympischen Spiele zu werden, weil er der Erste sein würde, der den japanische Jahrhundertturner Kohei Uchimura nach einem halben Jahrzehnt ununterbrochener WM- und Olympiasiege nun im Mehrkampf bezwingen konnte. Dann erschien die Note, und Wernjajew ließ den Kopf sinken. 19,800 - das reichte nicht. 0,099 Punkte fehlten, ein knappes Zehntel. Wernjajew bekam Silber mit 92,266 Punkten, Kohei Uchimura wurde mit 92,365 Punkten wieder Olympiasieger.

Noch nie ist der Japaner derart an seine Grenzen gebracht worden. Dieser Abend in der Rio Olympic Arena war der beste Mehrkampf-Wettbewerb, seit Uchimura 2008 bei den Männern eingestiegen war und seit seine Siege immer schon früh feststanden. Neben diesem Wettstreit um Schwierigkeiten und Eleganz gingen auch die Befindlichkeiten der anderen Sportler unter, der nächste Frust des Deutschen Andreas Bretschneider etwa, der seinen extrem schwierigen, gestreckten Doppelsalto mit Doppelschraube beim Flug über die Stange wieder nicht hängen konnte, dies aber mittlerweile recht routiniert verarbeitet. Sein Motto ist ja: Beim nächsten Mal wieder. "Es geht weiter", sagte er. Und zur Nebensache wurde auch ein Teilabschied.

Marcel Nguyen will weitermachen, vielleicht sogar bis zu den Spielen 2020 in Tokio

Marcel Nguyen, der Unterhachinger, der hinter Uchimura in London noch Mehrkampf-Silber gewonnen hatte, landete diesmal am Ende des Feldes, es war sein letzter internationaler Mehrkampf. Die Verletzungen, der Stress, der schmerzende Körper, das nervige Pauschenpferd. Nguyen will weitermachen, an Barren, Reck und Ringen, "mal sehen, vielleicht auch bis zur WM 2019 in Stuttgart", sagte er und schloss auch die Spiele in Tokio 2020 nicht aus. "Es macht mir gerade richtig Spaß."

Oleg Wernjajew macht es gerade auch richtig Spaß, im Prinzip, außer in einem Moment wie bei der letzten Notenvergabe. Da gehen vier Jahre Arbeit dahin, Wernjajew hatte zuletzt auf nichts anderes hingeschuftet. Bei der WM in Glasgow vor einem dreiviertel Jahr galt er bereits als der Kandidat, der den von Natur aus leichteren Japaner Uchimura besiegen könnte, weil er trotz seiner robusteren Statur Kraft mit Eleganz verbindet. Aber in Glasgow wurde er wohl das Opfer seiner Nerven, vielleicht auch der Überforderung, weil ihn sein Trainer im Dienste der Mannschaft zuvor durch Qualifikation und Teamfinale geschickt hatte. Am Pauschenpferd hatten ihn dann die Fliehkräfte besiegt und abgeworfen, lustlos hatte er zu Ende geturnt.

Diesmal hatten die ukrainischen Betreuer ihren besten Mann geschont, er führte einen ganzen Wettkampf lang und setzte Uchimura immer mehr unter Druck. Am Sprung stand Wernjajew den Doppelsalto rückwärts mit halber Drehung makellos, am Barren setzte er sich schon um acht Zehntel von Uchimura ab. Der Japaner machte einen ungewohnt erschöpften Eindruck, er atmete heftig und schwitzte. Aber er wusste wohl, dass ihm das Reck, eines seiner stärksten Geräte, noch eine Chance gab, und er nutzte sie.

Kohei Uchimura hatte in diesem olympischen Zyklus eine hartnäckige Schulterverletzung. Er ist nun 27 Jahre alt und hat mehr als acht Jahre fast ununterbrochen auf höchstem Niveau geturnt. Sein Konkurrent Oleg Wernjajew ist in Rio bis auf 0,099 Punkte an ihn herangekommen, und irgendwann wird er ihn auch besiegen. Doch bei diesen Olympischen Spielen wäre es vermutlich am schönsten gewesen.

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