Große Sporttreffen werden gebührend und feierlich beendet, sonntagabends, per Bilanz und Präsidenten-Rede. Doch nicht für jedes Team ist erst dann Schluss, für die deutschen Turner kam das WM-Ende in Stuttgart gewissermaßen zwei Stunden früher, als Lukas Dausers Fersen nach hinten kippten.
Mit seinem unfreiwilligen Abgang vom Barren war die letzte Chance vorbei, diesem Turnier auch eine Heimmedaille zu verpassen, und damit ein Zeichen für eine erfolgreiche Arbeit im deutschen Männerteam zu setzen. Hin- und hergegangen war es ja unter der Woche. Erst hatte die Riege von Bundestrainer Andreas Hirsch die Olympischen Spiele schon fast verpasst, dann erreichte sie doch noch den zwölften und letzten Platz. Erleichterung befiel das Team, doch am Ende der Woche bekam die Aufbruchstimmung wieder einen Dämpfer ab.
Dausers Barrenübung ist das Wertvollste, was Hirschs Mannschaft gerade zu bieten hat. Aber als Dauser beim schwersten Element, einer Drehung aus der Riesenfelge auf den linken Holm, aus der Achse geriet und abstieg, da war klar, dass hier kein Fest, keine Medaillenzeremonie mehr folgt, stattdessen war der Blick plötzlich frei auf den Weg zu den Olympischen Spielen 2020 in Tokio.
Sieben Monate Reha - ob Marcel Nguyen helfen kann, ist derzeit ungewiss
Dieser Weg folgt wie immer einem gewissen Plan, wird nun aber auch flankiert von vielen Fragen. Anders als in der Frauenriege von Trainerin Ulla Koch ist bei den Männern Vieles ungewiss. Zwar hat auch Kochs Team wegen Elisabeth Seitzs Absteiger im Stufenbarrenfinale in Stuttgart keine Medaille gewonnen, behält aber eine Perspektive. Seitz, Kim Bui und auch Sarah Voss sind erfahrene Turnerinnen. Pauline Schäfer und Sophie Scheder haben schon Gold und Bronze geholt, ihre momentanen Tiefs dürften vorübergehen. Und da sind noch Emelie Petz und Lisa Zimmermann, deren Talent schon so weit entwickelt ist, dass sie als Verstärkung für Tokio in Frage kommen. Bei den Männern sieht das anders aus.
Andreas Toba, Nick Klessing und Dauser dürften, falls gesund, gesetzt sein, doch die Absicherung durch jüngere Jahrgänge ist dünn. Karim Rida, der 19 Jahre alte Berliner, hat auch entscheidende Zehntel zum Olympia-Startplatz beigetragen, muss aber die Schwierigkeit seiner Übungen noch deutlich verbessern. Weitere Turner, die einspringen könnten, sind nicht in Sicht. Und ob der erfahrenste Athlet, der 32 Jahre alte, zweimalige Olympiazweite von London 2012 in Tokio noch mal mithelfen kann, ist offen: Marcel Nguyens Schulterverletzung war schwerer als vermutet; nicht eine, sondern drei Sehnen mussten geflickt werden, sieben Monate werden für die Rehabilitation veranschlagt, und schon in neun Monaten starten die Spiele.
Wenn Nachwuchs fehlt, liegt das zunächst mal nicht an der obersten Trainerebene. Andreas Hirsch hatte ja schon vor anderthalb Jahrzehnten erkannt, dass Nguyen ein Bewegungstalent ist, und er hat ihn genauso gefördert wie Philipp Boy und andere Jungs. Der Erfolg einer ganzen Dekade ist mit Hirsch verbunden, auch weil er klarmachte, dass er der Chef ist, konsequent war und auch glaubwürdig. Hirsch stellte sich vors Team, dessen Zusammenhalt ihm wichtig ist. Als die Familie Hambüchen wegen mancher Extra-Touren des deutschen Top-Turners Fabian Hambüchen mal Ärger mit dem Verband hatte, fand sie in Hirsch einen guten Ansprechpartner.
Dessen Methoden sind also einerseits modern, andererseits aber auch sehr traditionell. Hirsch hat feste Ansichten, und er macht keinen Hehl daraus, dass er die Wirkung von Mentaltraining nicht überschätzen würde: "Gut trainieren und ordentlich miteinander reden", das findet er im Zweifel besser. "Mentaltraining", sagte Hirsch in Stuttgart, "ist okay, ist aber nicht der Schlüssel, deshalb dreht sich keiner dreimal um die Längsachse." Tatsächlich gilt Mentaltraining mittlerweile im Turnen vielleicht nicht als Schlüssel, aber als weitere Säule für Höchstleistungen. In deutschen Teams haben schon viele davon profitiert, unter anderem Sarah Voss, Sophie Scheder und Fabian Hambüchen.
Die Frage fürs kommende Jahr ist also, ob Hirsch und die Verbandsführung es noch mal schaffen, wie Anfang der Nuller-Jahre Jüngere zu motivieren. Dazu müsste sie sich wohl weiter öffnen für moderne Talente und deren Milieus. Um Leistungen zu forcieren, müsste sie das Vertrauen der Heimtrainer gewinnen, sie in gewisse Pläne einweihen und zum Beispiel den Aufbau der Übungen besprechen.
Eine Nachwuchsmisere kann aber auch an der obersten Ebene liegen, wenn diese den Kontakt zur Basis verliert. Im Männer-Turnen fühlt sich mancher Regionaltrainer gerade übergangen, will seinen Frust aber noch nicht offen äußern. Bei den Frauen im Deutschen Turner-Bund ist die Zusammenarbeit zwischen Zentrale und Außenstelle längst selbstverständlich, zwischendurch gab es sogar mal eine Initiative zu Wertschätzung der Heimtrainer.
Marcel Nguyen sagt, er werde alles versuchen, um in neun Monaten als Mehrkämpfer fit zu sein; mit viel Disziplin könnte er es schaffen. Damit hätte das deutsche Turnen bei den Olympischen Spielen mehr Sicherheit, die tieferliegenden Probleme wären aber nicht gelöst.