Süddeutsche Zeitung

Turn-WM in London:An den Grenzen von Zeit und Physik

Der Nordkoreaner Ri Se Gwang verhilft bei der Kunstturn-WM in London der Disziplin Sprung mit seiner Akrobatik zu neuem Glanz.

Volker Kreisl

Früher nannten sie ihn Pferdsprung. Mit hellbraunem Leder überzogen war der Bock, er stand auf vier Beinen, und weil er für die Ertüchtigung Heranwachsender geeignet erschien, mussten sich Generationen von Schülern anstellen, anlaufen und über das Pferd ins Ungewisse springen. Man hasste es, und auch als Zuschauer ist es schwer, sich für die Turndisziplin Sprung zu faszinieren.

Vor acht Jahren hat der Weltverband zwar das Pferd wegen zu vieler Verletzungen ausrangiert, seitdem setzen die Springer über einen griffsicheren Tisch; die Verdichtung der Akrobatik auf eine Sekunde kann der Laie aber weiter kaum nachvollziehen. Die WM in London bietet also eine Besonderheit, wenn sich am Sonntagnachmittag die acht besten Springer zum Finale anstellen. Es wird der Höhepunkt des WM-Wochenendes.

Mit Matthias Fahrig, dem Sprung- Finalisten aus Halle, hat das weniger zu tun. Der 23-Jährige weckt zwar das Interesse der deutschen Beobachter, aber er hat nur eine kleine Medaillenchance. Warum schon seit Tagen Trainer, Schiedsrichter und überhaupt fast alle Fachleute in der Wettkampfarena über das Gerät Sprung raunen, liegt an Ri Se Gwang.

Allzu viel ist nicht bekannt über den 24-jährigen Nordkoreaner. Trotz kleiner Fortschritte und besserer Kontakte zu den Kollegen bleibt dessen Verband Teil eines besonders intransparenten Systems, weswegen auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei der Sprungkraft des jungen Mannes nachgeholfen wurde.

Dagegen spricht weniger der Umstand, dass es im Turnen kaum Dopingfälle gibt. Ein Indiz für Ris natürliche Fähigkeiten könnte aber sein, dass er schon immer besonders gut abhob. Bereits 2004 bei den Olympischen Spielen in Athen hatte Ri als Bodenturner Superlative gezeigt, danach fand er sich regelmäßig in den Medaillenrängen.

Kandidat für den Titel in London ist er nun, weil er etwas Verwegenes versucht. Ri reizt die Grenzen von Zeit und Physik aus. Eine der Höchstleistungen, die mit einem Schwierigkeitswert von 7,0 Punkten eingestuft werden, ist der Dragulescu. Dabei setzt der Athlet, wenn er nach dem Anlauf vom Sprungbrett kommt, mit beiden Händen voraus auf dem Tisch auf und versucht sich so weit wie möglich nach oben zu schleudern. Denn er braucht Höhe und Zeit für zweieinhalb gehockte Salti plus halber Drehung. Ri zeigt denselben Bewegungsablauf, nur in gebückter Haltung, er hält also die Beine gestreckt und benötigt noch mehr Höhe und Zeit, weil alles länger dauert - die Salto-Rotationen wie auch das Aufklappen des Körpers am Ende zum Stand.

Dragulescu zeigt Dragulescu

Im allgemeinen Lärm um die englischen Lokalhelden und die internationalen Cracks wirkt Ri Se Gwang wie ein Schüler zu Zeiten des Pferdsprungs: Er geht unter in der Reihe der winkenden und grüßenden Kollegen. Ri ist in sich gekehrt, nur zu seinem Lehrer scheint eine Verbindung zu bestehen. Der Cheftrainer beäugte im öffentlichen Training Ris Anläufe und Sprungradien aus der Distanz, immer wieder zitierte er ihn zu sich und deutete mit der gestreckten Hand die Richtung an. Erst etwas höher, dann etwas höher und weiter, und Ri nickte jeweils und versuchte es nochmal. Als es ernst wurde in der Qualifikation, klappte es, Ri stand. 7,2Punkte bekam er als Schwierigkeitswert, dazu eine Ausführungsnote von 9,6, insgesamt die Traumnote von 16,8 Punkten.

Bundestrainer Andreas Hirsch staunte: "Ich hätte nicht gedacht, dass ich bei so einer Granate mal live dabei sein könnte, jetzt war ich nur fünf Meter weg." Dass Ri der Satz noch einmal perfekt gelingt, ist aber nicht sicher. Außerdem muss jeder Kandidat zwei unterschiedliche Sprünge zeigen, es gibt also ein weiteres Risiko. Im Finale wird Ri weniger Zeit und schlechtere Möglichkeiten haben, um sich vorzubereiten.

Die Athleten sind aufs Einturnzelt angewiesen, das ist eng, die Sprungbahn federt anders. Alles in allem sind das schlechte Voraussetzungen für Hasardeure, weshalb am Ende die weniger schwierigen, aber sicher ausgeführten Sprünge die Wertung anführen dürften. Matthias Fahrig bleibt ohnehin nichts übrig, als sich auf die perfekte Darbietung des eigenen Repertoires zu konzentrieren. Dazu zählt mittlerweile auch ein Dragulescu, mit dem er bereits Bronze bei der EM in Mailand gewonnen hat.

Andererseits: Die Konkurrenz wird stark sein an diesem Sonntagnachmittag. Nicht nur Ri Se Gwang ist dabei, unter anderem auch der Russe Golotsutskow und natürlich jener Rumäne, der schon wieder aus dem Springer-Ruhestand zurückgekehrt ist, und der den Dragulescu von allen am besten beherrschen müsste. Marian Dragulescu hat ihn schließlich erfunden.

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Quelle:
SZ vom 17.10.2009
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