Süddeutsche Zeitung

Turnen:Die beste deutsche Turnerin jagt ihre WM-Medaille

Lesezeit: 3 min

Von Volker Kreisl, Doha/München

Sportler gibt es, die bekämpfen ihre Aufregung mit Ruhe und innerer Einkehr. Sie stülpen sich Kopfhörer über, verkriechen sich hinter die Bande und versuchen, die Gedanken über sich hinweg ziehen zu lassen. Für die Turnerin Elisabeth Seitz ist das nichts, sie hat eine aktive Methode: Sie bekämpft böse Gedanken vor einem Auftritt, indem sie redet. Ihr Opfer - die nächstbeste Teamgefährtin, der Arzt oder sonst ein Betreuer - erfährt dann alles über ihre Gefühlswelt, über die Halle, das Essen, das Wetter, was ihr durch den Kopf geht. "Ich texte die gnadenlos zu", sagt Seitz. Und manchmal, so fügt sie an, "manchmal tun die mir auch leid".

Aber es hilft.

Nervös war Elisabeth Seitz, 24, vom MTV Stuttgart zum Beispiel im September, als es darum ging, sich nach längerer Verletzungspause wieder für Weltmeisterschaften zu empfehlen. Höllisch aufgeregt war sie, aber sie hat ja so ihre Methode, und jetzt ist sie nach zwei erfolgsmäßig durchwachsenen Jahren wieder da. Bei der WM in Katar ist Seitz die erfolgreichste Turnerin des stark von Verletzungen geschwächten deutschen Teams. Sie stand am Dienstag im Teamfinale, wurde im Mehrkampffinale am Donnerstag 21. und qualifizierte sich an ihrem Spezialgerät, dem Stufenbarren, für den Endkampf am Freitag.

Seitz hat auch schwarze Stunden erlebt

Doch ist diese WM in Katar nur eine Zwischenstation auf dem Weg zum Vierjahreshöhepunkt Olympia, 2020 in Tokio, wofür sich die Besten im Oktober 2019 bei der WM in Stuttgart qualifizieren, was ganz, ganz viel Lampenfieber und Redezwang ergibt. Und nach all dem, was Seitz, die konstanteste, erfahrenste und extrovertierteste deutsche Turnerin in den vergangenen Wochen wieder bewiesen hat, wird sie in diesen zwei Jahren die Hauptrolle im Team von Bundestrainerin Ulla Koch spielen.

Auch das Turnern ist wie jeder Sport ein Abbild des echten Lebens. Und jemand, der als Anführer den Jüngeren davon erzählen soll, der sollte möglichst beide Extreme durchgemacht haben: Erfolg und schlimme Niederlage. Seitz hatte schon vor sieben Jahren an ihrem Lieblingsgerät, dem Stufenbarren, ein eigenes Element kreiert, sie war früh EM-Zweite im Mehrkampf und galt als Pendant zu Fabian Hambüchen bei den Männern. Wie der beherrschte sie bald die nationale Szene, mit 21 deutschen Meistertiteln hält Seitz seit vier Wochen den Rekord.

Aber sie hatte auch schwarze Stunden erlebt, zum Beispiel wegen eines bestimmten Barren-Elements, dem Def, einem komplizierten Schraubensalto mit Richtungswechsel am oberen Holm, bei dem sie im WM-Finale 2010 in Rotterdam zweimal stürzte und bei dessen falsch berechneter Ausführung sie sich später auch mal die Zähne ramponierte. Seitz hatte immer wieder Verletzungen, zum Beispiel Schulterschmerzen im Frühjahr 2014 und danach noch eine Fußoperation wegen freier Gelenkkörper. Im Herbst 2017 pausierte sie wegen Schmerzen im Rücken, in diesem Sommer wegen einer rätselhaften Entzündung im Bauchraum, sie turnte mit ausgekugeltem kleinen Finger oder mit angerissener Sehne im Fuß, aber die größten Schmerzen litt sie womöglich, als ihr Körper heil war, bei den Spielen 2016 in Rio.

Bis heute fehlt Elisabeth Seitz eine große Medaille, von einer WM oder, noch besser, von Olympia. In Rio turnte sie die Stufenbarrenübung ihres Lebens, nur die überragende Russin Alina Mustafina und die Amerikanerin Madison Kocian waren unerreichbar, und trotzdem wurde sie am Ende nur Vierte, mit 33 Hundertstelpunkten Rückstand auf Bronze. Normalerweise kann man solche Enttäuschungen durch Schimpfen oder Fluchen loswerden, vor allem Seitz mit ihrer offenen Art, aber in diesem Fall? Bronze hatte die damals 19 Jahre alte Teamkollegin Sophie Scheder errungen, mit einer minimal besseren Übung, das war anzuerkennen, was Seitz auch tat. Sie trauerte eben im Hintergrund, wo in diesem Moment ihr Platz war, und arbeitete seitdem auf die nächste Chance hin.

Die kriegt sie nun am Freitag, für das Stufenbarren-Finale der WM hat sie sich als Drittbeste qualifiziert, hinter der Belgierin Nina Derwael und der amerikanischen Ausnahmeathletin Simone Biles, die am Donnerstag als erste Turnerin überhaupt zum vierten Mal Weltmeisterin im Mehrkampf wurde. Seitz' großes Ziel ist das olympische Finale 2020 in Tokio. Mehr als die meisten Gegnerinnen hat sie die Fähigkeit, immer wieder von Neuem in der Halle zu stehen, so wie der Stufenbarren selbst. Das liegt an ihrer Fähigkeit zur Selbstüberwindung, aber auch an ihrer Ausstrahlung, mit der sie Zuschauer und Kampfrichter für sich gewinnt. Seitz kann nicht nur viel reden, sondern auch viel lachen. Auf eine Art, so breit und glücklich, so kann man gar nicht künstlich grinsen.

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Quelle:
SZ vom 02.11.2018
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