Turn-WM:Das Flugzeug besiegt

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Abgerutscht, gestürzt - und doch noch Gold geholt: Der japanische Turner Kohei Uchimura bei der letzten Übung des Team-Wettbewerbs. (Foto: Phil Noble/Reuters)

Nach 37 Jahren erlösen sich Japans Turner und gewinnen wieder Mannschafts-Gold. Kohei Uchimura beweist dabei, dass er der beste Athlet seines Sports ist.

Von Volker Kreisl, Glasgow

Als alles vorbei war, saßen die sieben Japaner aufgereiht nebeneinander vor der Presse und schwiegen. Gut, zwei, drei Worte fielen wohl doch untereinander da oben auf der Bühne, aber was sind schon zwei, drei Worte nach einem Sieg, der alle Gefühle herausgekitzelt hatte? Zuversicht, Lässigkeit, Schrecken, Angst, Scham vor der ganzen Nation und schließlich Freude, ach was, Ekstase. In der Mitte saß Kohei Uchimura, der beste Turner der Turn-Geschichte, links und rechts je drei Kollegen. Sie warteten, bis die Frage an sie ging, die Frage, was es noch zu verbessern gelte bis zu den Olympischen Spielen in Rio im nächsten Jahr. Und jeder der sieben beugte sich vor, ging noch einmal in sich wie vor einer Reckübung, schaltete das Mikrofon an und murmelte kurz, dass es noch viel zu arbeiten gebe bis Rio, und dass er diesen oder jenen Fehler nicht mehr machen werde.

Sechsmal war Japan vom Erzrivalen China besiegt worden

Die sieben hatten soeben eine 37 Jahre währende Wartezeit beendet, die am Selbstbewusstsein der Japaner genagt hatte. Sie sind mit der Mannschaft Weltmeister geworden, nachdem sie sechsmal vom Rivalen China besiegt worden waren. Ihr Sieg in Glasgow war aber nicht nur das Ende irgendeiner Negativserie, sondern ein Ereignis, an das sich die meisten länger erinnern werden als an die vielen Erfolge von amerikanischen Turnerinnen oder von chinesischen Turnern. Er hat gezeigt, wie die Spannung eines Sports, der schwer verstehbar und damit auch schwer präsentierbar ist, in ein paar finalen Minuten eskalieren kann. Sport kann es also auch sein, zusammen mit 8000 Zuschauern auf eine kleine Anzeige neben dem Reck zu starren und auf die letzte Note zu warten. Und es war ein Sieg der Konzentration.

Die entscheidende Frage, die niemand letztlich beantworten konnte, war, ob Uchimura das Düsenflugzeug neben sich starten gehört hatte oder nicht. Er selber sagte später, nein, er habe nichts gehört. Erfahrene Reckturner trauen ihm das zu. Erfahrene Biologen würden wohl vermuten, das sei Schwachsinn. Die Spannung war aufgekommen, weil Uchimura als Letzter zur 144. Übung des Abends an die Stange geschickt wurde, ungefähr acht Sekunden, bevor die Jury die letzte Note Großbritanniens aufs Hallendisplay schickte. Acht Sekunden - Uchimura setzte da zum ersten riskanten Reckstangen-Überflug an. Und weil die Note für Max Whitlock eine überragende 15,766 war, die sein Team vor Japan setzte, vergaß das britische Publikum logischerweise jede vornehme Zurückhaltung.

In diesem Moment des großen Kreischens und Johlens schienen auch die Kulturen dieser Sportart aufeinanderzuprallen. Das Turnen ist ja schon ziemlich alt, es hat alle möglichen Stilarten hervorgebracht, und hier stand die lautere anglo-amerikanische Come-On!-Kultur der fernöstlichen Kunst der inneren Stille gegenüber. Uchimura turnte wie ein Blatt bei zu starkem Wind. Bei der ersten Flugübung blieb er noch oben, bei der zweiten wehte es ihn herunter.

Und dann war es plötzlich leise. Eine Mischung aus Ehrfurcht und der Ahnung, dass für Great Britain plötzlich Gold drin ist, kam auf. Denn Japans Vorsprung war ja vor Uchimuras letzter Übung nach Yusuku Tanakas Recksturz und dank Max Whitlock auf gut 14 Punkte geschmolzen. 14 Punkte nach einem Sturz erreicht keiner, andererseits, dieser Kohei Uchimura vielleicht doch.

Wolfgang Hambüchen, Fabians Vater, war als 20-Jähriger lange in Japan, dabei hat er Einblicke in die japanische Kultur und Konzentration bekommen. Japaner meditieren oft, sie sind also präsent, auch wenn es nicht so aussieht. "Wenn Sie in Japan U-Bahn fahren, meinen Sie, die schlafen alle", sagt Hambüchen, "tatsächlich entspannen die sich." Es ist ein Standby-Zustand im Stress, ein Herunterfahren auf Minimalkraft. Andererseits hilft das auch in akuten Situationen. Uchimura, heißt es, meditiere zweimal die Woche, und man kann davon ausgehen, dass er in Glasgow einen "emotionalen Neustart" hingekriegt hat, wie Hambüchen sagt.

Uchimura war hier ja schon mal am Boden gestürzt, er ist Mehrkampf-Olympiasieger und fünfmaliger Weltmeister in Serie, und er hatte klar gemacht, er wolle auf keinen Fall, dass es den Japanern trotz seiner Fähigkeiten nicht gelingt, endlich die Chinesen zu schlagen. Er stand also auf und turnte präzise zu Ende. Sogar den riskanten Adler mit halber Drehung samt angeschlossenem Doppelsalto mit ganzer Drehung gelang makellos. Die letzte Schrauben-Salti-Kombination beendete Uchimura im Stand, ohne zu wackeln. Aber reichte das für 14 Punkte?

Die zurückhaltende japanische Delegation schloss sich in der Ecke zusammen wie eine Muschel, mittendrin Uchimura. Als dann eine 14,466 aufleuchtete, war eine Seltenheit zu bestaunen. Die Japaner begannen zu hüpfen und zu tanzen. Sie drückten ihren ersten Turner, der Trainer machte ein Handy-Foto von der Szene, und fast hätten sie noch Uchimura hoch gehoben, aber das haben sie dann doch nicht gemacht.

Dafür waren alle anderen, auch das britische Publikum, mit diesem Ausgang einverstanden. Ihr Team stand dank guter Ausführungen zu Recht auf Platz zwei, China holte Bronze, und Japan ging zur Tagesordnung über. Die skurrile Sieger-Pressekonferenz war für Europäer schwer zu verstehen, tatsächlich aber nur konsequent. Denn die Tagesordnung ist in Japan nichts anderes als der beständige Weg des Lebens. Dass sie im Moment des Triumphs gelobten, sich zu bessern und bestimmt keine Fehler mehr zu machen, war für Hambüchen logisch. Es zähle der Weg, nicht das Ziel, sagt er: "Die sind immer auf dem Weg zur perfekten Übung." Und das Ziel war schon wieder vorbei.

© SZ vom 30.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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