Turn-WM:"Angst, Hunger, Druck und Tränen haben bei uns keinen Platz"

Turnen WM Stuttgart 2019 Pauline Schaefer (GER) - Turn-WM 2019 Stuttgart Deutschland Hans-Martin-Schleyer-Halle bei der; Pauline Schäfer, Pauline Schäfer-Betz

Pauline Schäfer-Betz will nicht nur auf dem Schwebebalken etwas bewegen, sondern auch in der Trainingsmethodik ihres Sports.

(Foto: Michael Ruffler/Masterpress/Imago)

Die frühere Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz ist die einzige deutsche Turnerin bei der WM in Japan. Das lenkt den Fokus auch auf ihren Kampf gegen veraltete und überharte Trainingsmethoden.

Von Volker Kreisl

Turnen ist ein Einzelsport, und doch haben die Athleten immer ein Team um sich herum. Besonders in entscheidenden Momenten, vor dem Höhepunkt einer Übung, etwa bei einem Schrauben- und Salto-Flieger über die Reckstange, stehen Trainer und Teamgefährten unten und feuern an. Und auf großer Bühne, wie der bei einer Weltmeisterschaft, wirkt der Beistand der anderen Wunder. Trotzdem ist Pauline Schäfer-Betz zur WM aufgebrochen, als einzige Turnerin des deutschen Verbandes DTB, weit weg nach Kitakyushu in Japan.

Doch sie ist mehr als nur die letzte übriggebliebene Spitzenturnerin eines gestressten Teams, das sich erholt von den Strapazen des Olympiasommers. Viele Riegen sind weltweit gerade damit beschäftigt, überhaupt erst wieder anzufangen nach der Erholungsphase, bei den Deutschen verzichteten Größen wie Elisabeth Seitz und Sarah Voss. Diese lange geplante Weltmeisterschaft liegt nun wegen der um ein Jahr verschobenen Spiele quer und störend im Trainingskalender, wie bei vielen Olympiasparten. Die Turner müssen zudem noch einmal nach Japan fliegen und einen Jetlag überwinden, das Projekt zurück nach Asien war also eher unattraktiv. Nicht aber für Schäfer-Betz.

Nach der Erholung von den Olympischen Spielen hat sie schnell zur alten Form gefunden

Denn sie hat so gut wie kein Problem mit den Strapazen. Für eine WM braucht man eine gute Wettkampfform, und Schäfer-Betz berichtete, sie habe nach ihrem Urlaub ungewöhnlich früh zurückgefunden in eine fast schon optimale Turn-Verfassung. So früh hatte sie ihre alte Form, dass der Gedanke aufkam: "Let's do it." Und ganz alleine ist sie ja auch nicht. Ihr Heimtrainer ist noch dabei, außerdem ihr Freund, der Reckturner Andreas Bretschneider, der zusammen mit einer verjüngten Männermannschaft antritt.

Neue, eigene Wege beschreitet die gebürtige Saarländerin schon länger. Als 15-Jährige wechselte sie im Jahr 2012 aus ihrer Heimat, dem Saarland, nach Chemnitz, um dort bei der erfolgreichen Stützpunkttrainerin Gabriele Frehse zu trainieren. Die Zusammenarbeit brachte Medaillen, Schäfer-Betz holte am Schwebebalken 2015 WM-Bronze und wurde am selben Gerät 2017 Weltmeisterin. Gleichzeitig war die Beziehung zur Trainerin belastet.

Schäfer-Betz und fünf weitere Betroffene erklärten im Spätsommer 2020, sie litten bei Frehse unter psychischer Gewalt. Ihre Trainingsmethoden seien überhart, die Wortwahl teils erniedrigend. Dem gegenüber stand die Meinung von Teamkollegin Sophie Scheder, die die Ansprache der Trainerin manchmal als sehr deutlich, aber persönlich nicht als verletzend empfand. Frehse wurde vom DTB als Trainerin ausgeschlossen, klagte sich zuletzt zurück, der Verband will sie dennoch nicht mehr mit seinen Turnerinnen arbeiten lassen.

Gymnastics - Artistic - Olympics: Day 5

Will mit seiner Lebensgefährtin Pauline Schäfer-Betz alte Turntraditionen brechen: Andreas Bretschneider.

(Foto: Alex Livesey/Getty Images)

Wie gut die Weltmeisterin von 2017 an diesem Montag tatsächlich in der WM-Qualifikation und später in Wettkämpfen abschneidet, ist noch ungewiss. Zuletzt erreichte sie an ihrem besten Gerät nicht mehr die besten Plätze. Realistische Hoffnung hat sie auf eine Finalteilnahme am Schwebebalken.

Sollte es dazu kommen, dann ist eine Medaille nicht auszuschließen, Schäfer-Betz ist eine Turnerin, die sich im Laufe eines Wettkampfs steigern kann - was sie vor vier Jahren bei ihrem WM-Titel mit einer hochkarätigen, sicheren und zudem eleganten Vorführung bewiesen hatte. Damals war sie noch eher eine Schülerin, nun ist sie vier Jahre erfahrener und selbstbewusster und hat auch außerhalb des Trainings mehr zu tun, und zwar in einer neuen Tätigkeit, die sie eher bestärken als einschränken dürfte.

Die Turnerin will sich konkret engagieren. Der Streit darüber, ob eine Ansprache im Training zeitgemäß ist, ob bestimmte Ansagen als motivierend oder demütigend empfunden werden, kann manchmal kaum gelöst werden. Wenn sich, wie in diesem Fall, eine ganze Gruppe misshandelt fühlt, sollte der Verband einschreiten, was er wohl auch weiterhin tut. Was die Betroffene, zumal die Bekannteste, tun kann, ist selber in die Offensive zu gehen, und dies hat Schäfer-Betz nun vor.

Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Andreas Bretschneider plant sie eine Alternative zum längst überkommenen Training mit Druck durch Schreien und Beleidigen, nicht selten durch Bemerkungen über das Gewicht. Das Projekt der beiden heißt Grip and Grow Gymnastics. Sie verfolgen den durchaus ehrgeizigen Plan, Spitzenturnen auf achtsame und respektvolle Weise zu ermöglichen.

In den meisten Trainingszentren hierzulande wird dies wohl schon im Alltag gelebt, und doch ist es noch mal etwas anderes, wenn der gegenseitige Respekt zum Plan gehört und den Angestellten entsprechend verdeutlicht wird. Was damit genau gemeint ist, haben Schäfer-Betz und Bretschneider bereits näher definiert: "Angst, Hunger, Druck und Tränen haben bei uns keinen Platz. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, mit veralteten Turntraditionen und autoritären Trainingsregimen zu brechen."

So ein selbst definiertes Vorhaben kann zu einer Lebensaufgabe werden, spannend wird es zu beobachten sein, wie gut das alternative Gym der beiden angenommen wird. Ihre Namen werden Eltern anziehen, aber, falls es um Elitesport geht, auch die Hoffnung auf Wettkampferfolg der Kinder. Womöglich werden dann auch alternativer denkende Übungsleiter ungeduldig mit ihren Schülern, wenn es um den Nominierungsdruck und die Existenz des eigenen Ladens geht. Vielleicht sind solche Sorgen aber auch überflüssig, weil bei den selbstbewussteren Talenten von morgen die Methoden von gestern ohnehin nicht mehr greifen, und zeitgemäßes Training mehr Erfolg verspricht.

Vorerst gilt die Konzentration noch der Gegenwart. Für Bretschneider, den Reckspezialisten, der einst den ultraschweren Bretschneider-Salto erfunden hatte, ist diese WM die letzte große Aufführung. Der 32-Jährige beendet seine Karriere, ein sauberer letzter Auftritt am Reck wird ihm genügen. Schäfer-Betz, 24, plant aber noch bis mindestens zu den nächsten Olympischen Spielen 2024 in Paris, und wenn ihr Formanstieg zuletzt nicht nachgelassen hat, so wäre mit etwas Glück auch in Kitakyushu eine Medaille drin.

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