Tunesien bei der Fußball-WM:Einheit vor der Leinwand

Tunesien bei der Fußball-WM: Kritik an Katar ist hier nicht das vorherrschende Thema: Fans in Tunis begeistern sich für die Partie gegen Australien.

Kritik an Katar ist hier nicht das vorherrschende Thema: Fans in Tunis begeistern sich für die Partie gegen Australien.

(Foto: Fethi Belaid/AFP)

In Nordafrika ist das Interesse an der Fußball-WM groß. Auch wenn viele in Tunesien und Marokko die Golfstaaten kritisch sehen, überwiegt ihr gemeinsamer Stolz, dass ein arabisches Land Gastgeber des größten Sportevents der Welt ist.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Im "Jean d'Arc" ist vor dem Anpfiff kein einziger Sitzplatz mehr frei. Wie in vielen Cafés in Tunis stehen Fußballfans dicht gedrängt und schauen auf die große Leinwand mit der Live-Übertragung des Spiels Australien gegen Tunesien. Die Erwartungen sind groß, mit einem Sieg könnte das Nationalteam, die "Adler Karthagos", erstmals die Vorrunde einer WM überstehen. Die Zeichen stehen gut, glauben viele. Das Unentschieden Marokkos gegen Kroatien, den WM-Zweiten von 2018, der Sieg Saudi-Arabiens gegen Argentinien und das Unentschieden Tunesiens gegen Dänemark haben in der arabischen Welt Euphorie ausgelöst.

"Die ersten Spiele der Weltmeisterschaft haben gezeigt, dass die ehemaligen Underdogs nun an das Niveau der Favoriten herankommen", sagt Nidal Massaoud. Der 35-jährige IT-Ingenieur verfolgt mit seinen Freunden normalerweise die englische Premier League und Spiele spanischer Mannschaften. Vor dem Anpfiff am Samstag wird bei Kaffee und Zigaretten über Vereinsspieler gefachsimpelt. Einige Besucher haben sich tunesische Flaggen über die Schultern geworfen. Die Mehrheit der Besucher im Café spricht mit den Sitznachbarn, als die Nationalhymnen laufen. Seit dem Putsch von Präsident Kais Saied im Sommer vergangenen Jahres und angesichts der seit Februar exorbitant gestiegenen Lebensmittelpreise sind viele Tunesier in einer Art Überlebensmodus. Der Nationalstolz ist vielen abhandengekommen.

Viele Tunesier sind vor der Arbeitslosigkeit in der Heimat nach Katar geflohen

Immerhin, das vom deutschen Schiedsrichter Daniel Siebert geleitete Spiel gegen den Fußballzwerg Australien ist eine willkommene Abwechslung zur politischen und wirtschaftlichen Misere des Alltags.

Tunesiens Trainer Jalel Kadri lässt die vielgelobte Elf des Auftaktspiels gegen Dänemark fast unverändert antreten. In Naim Sliti verstärkte er sogar die Offensive. Die 20 000 tunesischen Fans im gut besetzten Al-Janoub-Stadion singen inbrünstig.

Dann sind es die australischen Spieler, die immer wieder gefährlich vor dem tunesischen Tor auftauchen. Die wenigen Konter der "Adler von Karthago" bleiben harmlos. Die Straßen in Tunis sind während des Spiels wie leer gefegt. Alle Spiele der WM in Katar werden live übertragen und in langen Sondersendungen des staatlichen TV-Senders Watania und den WM-Studios der privaten Kanäle diskutiert.

In Katar stellen die Tunesier eine der größten und lautesten Fangruppen. Am Sonntag schwenkt die Kamera über ein Meer aus Fans in den roten Shirts des tunesischen Verbands. Mehr als 30 000 Tunesier sind vor der Arbeitslosigkeit in der Heimat nach Katar geflohen und leben in dem Emirat. Sie berichten heimischen Journalisten begeistert von der Stimmung auf den Fanmeilen.

"Die katarkritische Stimmung in Europa teilt hier in Nordafrika kaum jemand", sagt Suhail Khmira. Der Sportjournalist verfolgt das Australien-Spiel mit mehreren Hundert Fans in dem Strandclub "Yuka" im Hauptstadtvorort La Marsa.

"Als Araber bin ich stolz darauf, auch einmal im Mittelpunkt der Sportwelt zu stehen, egal mit welchen Team", sagt ein Fan

Obwohl Tunesien in der zweiten Halbzeit deutlich selbstbewusster auftritt, bleibt die Stimmung vor der riesigen Open-Air-Leinwand gedrückt. Immer wieder vergeben der Deutsch-Tunesier Mohamed Dräger und Issam Jebali leichtfertig Chancen zum Torschuss. "Uns fehlt es nicht an Talenten, aber an Effizienz", ärgert sich Suhail Khmira.

Der Schlusspfiff besiegelt die 0:1-Niederlage Tunesiens.

"Dann fiebere ich halt mit den Saudis", sagt ein Besucher und zuckt mit den Schultern. Im Yuka glaubt niemand an einen Sieg am kommenden Mittwoch im Spiel gegen die ehemalige Kolonialmacht Frankreich. "Selbst die großen Gegner wurden bei dieser WM schon besiegt", spricht hingegen Nationaltrainer Jalel Kadri in die Kameras.

Im Yuka-Club ist die Stimmung nach dem Abpfiff gut. Man ist stolz, dass ein arabisches Land die WM ausrichtet. An den Wochenenden tanzen hier viele Tunesier aus der LGBTQI-Szene zu den Musik-Sets internationaler DJs. Hier trifft sich die junge und liberale Generation, von der Unterstützung Katars für die Islamisten und den politischen Islam hält diese Szene nicht viel.

Doch Politik spielt eben zurzeit keine Rolle. Selbst die um 60 Sekunden verzögerte Übertragung des TV-Signals der Spiele in die arabische Welt ist vielen egal. Damit wollen die Veranstalter verhindern, dass Regenbogenflaggen oder politische Proteste ungefiltert nach Marokko oder Ägypten übertragen werden. Am Samstag sitzen Besucher aus vielen arabischen Ländern im Yuka. "Die Europäer sollten verstehen, dass nur eine Minderheit der weltweiten Zuschauer ihre kritische Meinung zu Katar teilt", sagt der Marokkaner Mohamed nach dem Spiel. "Als Araber bin ich stolz darauf, auch einmal im Mittelpunkt der Sportwelt zu stehen, egal mit welchen Team. Diese Einheit der arabischen Welt hat Katar geschaffen. Zumindest für einen Moment."

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